Arbeitszeiterfassung: Arbeitsrechtlicher Paukenschlag

Mit dem vielbeachteten Urteil des EuGH vom 14.5.2019 (Aktenzeichen C-55/18) wurde die juristische Diskussion angestoßen, ob und inwieweit unter Berücksichtigung der europäischen Bestimmungen (EU-Arbeitszeitrichtlinie und EU-Charta) Arbeitgeber verpflichtet sind, die tägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen. Der EuGH kam in seinem vorgenannten Urteil zu dem Ergebnis, dass für die EU-Mitgliedsstaaten hiernach eine solche grundsätzliche Verpflichtung besteht. Es stellte sich in der Folge für die deutsche Rechtsanwendung die Frage, ob es hierzulande ein ausreichendes "System der Zeiterfassung" im Sinne des EuGHUrteils bereits gab - oder ob weitergehender Umsetzungsbedarf für eine Arbeitszeiterfassung vorhanden war.Wie zu erwarten, bestanden unterschiedliche Auffassungen: Bundesarbeitsminister Heil (SPD) kündigte beispielsweise unmittelbar nach dem EuGH-Urteil an, dieses "modern, objektiv und verlässlich" umsetzen zu wollen. Gemäß dem damaligen Bundeswirtschaftsminister Altmaier (CDU) war es dagegen erforderlich, erst einmal per Rechtsgutachten zu klären, ob für das EuGH-Urteil im Hinblick auf deutsche bestehende Gesetze ein Umsetzungsbedarf überhaupt existiert.Nachdem die Politik bis heute nicht zu einem Ergebnis kam, hat nun das Bundesarbeitsgericht (BAG) mit Beschluss vom 13.9.2022 (Aktenzeichen 1 ABR 22/21) die Diskussion jedenfalls über das "Ob" der Erforderlichkeit einer solchen Umsetzung beendet. Quintessenz des BAG-Beschlusses: Deutsches Recht verpflichtet die Arbeitgeber zur Erfassung der Arbeitszeit.Der FallArbeitgeber und Betriebsrat schlossen zunächst im Jahr 2018 eine Betriebsvereinbarung zur Ausgestaltung der Arbeitszeit. Zeitgleich und zusätzlich verhandelten beide über eine Betriebsvereinbarung zur elektronischen Erfassung dieser Arbeitszeit. Eine Einigung zur Arbeitszeiterfassung kam nicht zustande. Vielmehr entschloss sich der Arbeitgeber, entgegen den vorangehenden Verhandlungen auf eine elektronische Zeiterfassung zu verzichten. Der Betriebsrat sah für sich im Hinblick auf das Betriebsverfassungsgesetz (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG) ein "Initiativrecht" zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems. Um den Arbeitgeber an den Verhandlungstisch zurück zu zwingen, beantragte der Betriebsrat beim zuständigen Arbeitsgericht - erfolgreich - die Einsetzung einer Einigungsstelle über die Einführung der elektronischen Zeiterfassung. Der Arbeitgeber wiederum widersetzte sich dem vom Betriebsrat reklamierten Initiativrecht und rügte die Zuständigkeit der Einigungsstelle. Zu eben der Frage der Zuständigkeit der Einigungsstelle kam es in der Folge zu einem arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren durch alle Instanzen. Der Betriebsrat hatte in den beiden ersten Instanzen Erfolg, unterlag jedoch letztinstanzlich in der Rechtsbeschwerde des Arbeitgebers zum BAG.BAG-Beschluss vom 13.9.2022Vordergründig ging es in dem Rechtsstreit zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat "nur" um die Frage, ob der Betriebsrat "initiativ" eine Betriebsvereinbarung mit dem Arbeitgeber über die elektronische Zeiterfassung anstoßen kann. Die arbeitsrechtliche Sprengkraft des BAG-Beschlusses, mehrfach als "Paukenschlag" bezeichnet, ergibt sich allerdings nicht aus dem bloßen Tenor der Entscheidung, sie ergibt sich vielmehr aus der - wohl in dieser Gestalt nicht erwartbaren - Begründung. Zwar liegt aktuell lediglich eine BAG-Pressemitteilung zum Beschluss vom 13.9.2022 vor, jedoch ergeben sich aus der Mitteilung hinreichend die besonderen rechtlichen Auswirkungen. Hiernach hat ein Betriebsrat nach den einschlägigen Bestimmungen des Betriebsverfassungsrechts in sozialen Angelegenheiten nur insoweit ein Mitbestimmungsrecht (und damit ein Initiativrecht), als eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht. Das BAG ist in seinem Beschluss vom 13.9.2022 nun aber der Auffassung, dass bei "EU-rechtskonformer Auslegung" es mit § 3 Abs 2 Nr. 1 ArbSchG (bereits) eine gesetzliche Bestimmung gibt, die den Arbeitgeber verpflichtet, die Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen.ArbeitsschutzgesetzMaßnahmen des Arbeitsschutzes sind nach der Definition des § 2 ArbSchG "Maßnahmen zu Verhütung von Unfällen bei der Arbeit und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren einschließlich Maßnahmen der menschengerechten Gestaltung der Arbeit." Es handelt sich hierbei also um eine Generalklausel mit Pauschalaussagen. Ebenfalls mittels Generalklausel ausgestaltet sind in § 3 ArbSchG die "Grundpflichten des Arbeitgebers". Für die Feststellung der Zeiterfassungspflicht - und somit einer konkreten Arbeitgeberpflicht - war für das BAG der nachfolgende Gesetzestext maßgeblich:"§ 3 Grundpflichten des Arbeitgebers (1) Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen. ...(2) Zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach Abs. 1 hat der Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeit und der Zahl der Beschäftigten 1. für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen ..."Dass § 3 Abs 2 Nr. 1 ArbSchG eine konkrete Pflicht zur Zeiterfassung statuieren könnte, war in der unmittelbaren Folge des eingangs genannten EuGH-Urteils nicht abzusehen. Es bleibt nun abzuwarten, welche Festlegungen und/oder Zielrichtungen sich aus der umfassenden Begründung des BAG-Beschlusses ergeben werden.AusblickVielfach ist zum Beschluss des BAG zu lesen, die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung bestünde ab sofort für jeden Arbeitgeber und für jede Art von Unternehmen. Entsprechendes ist aus der Pressemitteilung des BAG allerdings nicht zu entnehmen und ergibt sich auch nicht aus dem Gesetzestext des § 3 Abs. 2 ArbSchG (Zitat: "...unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten ..."). Im Übrigen hat auch der EuGH in seinem Urteil vom 14.5.2019 bereits ausgeführt, dass den EU-Mitgliedsstaaten bei Regelungen zur Zeiterfassung eröffnet ist, die Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereiches, sogar die Eigenheiten bestimmter Unternehmen, namentlich ihre Größe zu berücksichtigen. Es darf also zunächst einmal die ausführliche Begründung des BAG zum Beschluss vom 13.9.2022 abgewartet werden - wie auch eine nähere gesetzliche Regelung erwarteterweise in Bälde ansteht. Der Prozessgewinn in dem vom BAG entschiedenen Fall war für den Arbeitgeber jedenfalls ein Pyrrhussieg: Zwar konnte er das Initiativrecht des Betriebsrats abwehren, dies allerdings nur mit der Begründung des BAG, dass ohnehin eine gesetzliche Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht.Kurzfassung1. Mit Beschluss vom 13.9.2022 legt das BAG eine allgemeine Pflicht der Arbeitgeber zur Erfassung der Arbeitszeit der Arbeitnehmer fest. Abgeleitet wird diese Pflicht aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG und den dort normierten "Grundpflichten des Arbeitgebers".2. Diese Grundpflichten des Arbeitgebers beinhalten u. a., die Pflicht des Arbeitgebers "für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen". Zu berücksichtigen sind hier die Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten. Die schriftliche Urteilsbegründung des BAG wird insoweit abzuwarten und zu würdigen sein.3. Vorangehend hatte der EuGH in seinem Urteil vom 14.5.2019 bereits entschieden, dass für EU-Mitgliedsstaaten bei Regelungen zur Zeiterfassung die Möglichkeit besteht, die Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereiches, sogar die Eigenheiten bestimmter Unternehmen und auch ihre Größe zu berücksichtigen.KommentarBereits im Nachgang zum Urteil des EuGH vom 14.05.2019, welches die grundsätzliche Pflicht der Arbeitgeber zur Zeiterfassung beinhaltet, wurde das Ende der Vertrauensarbeitszeit diskutiert. Dann aber kam die Corona-Pandemie. Eine der Folgen war es, dass sich die Arbeitszeitmodelle - auch und gerade im Hinblick auf die Vertrauensarbeitszeit - diversifizierten. Es gibt viele Branchen, in denen sich Arbeitnehmer in der Vertrauensarbeitszeit - ohne Zeiterfassung - eingerichtet haben und ein anderes Arbeitszeitmodell auch gar nicht mehr wollen. Auf der anderen Seite gibt es Branchen, für die die Zeiterfassung sinnvoll und geboten ist. Ein vollständiges Abrücken von der Vertrauensarbeitszeit und ein generelles Zurück zur Stechuhr ist wohl kaum der richtige Weg. Der Gesetzgeber ist mit angemessenen Regelungen gefragt. Die Umsetzung der Zeiterfassung sollte nicht den Gerichten überlassen werden.Rainer Bopp Rechtsanwalt

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