Dass bei aller Euphorie über die schnelle Entwicklung der aktiven Fahrsicherheit auch in der passiven Fahrzeugsicherheit noch Meilensteine gesetzt werden können, verdeutlichte Prof. Dr.-Ing. Rodolfo Schöneburg, Direktor der Sicherheits- und Standfestigkeitsentwicklung bei Mercedes-Benz Pkw, in seinem viel beachteten Vortrag auf dem 10. Schadenforum in Potsdam. Er beleuchtete dabei sowohl die Möglichkeiten und Konsequenzen für den Verlauf von Starßenverkehrsunfällen, als auch die präventive Sicherheitsauslegung von Autos unterschiedlichster Größe und Masse.
75 Jahre Daimler-Sicherheitsforschung – von Barényi zu Schöneburg
Dabei gab er gleichzeitig einen tiefen Einblick in die Sicherheitsforschung im Hause Daimler, die seit nunmehr 75 Jahren intensiv und professionell im Konzern betrieben wird. Begonnen wurde sie im Jahr 1939, als der legendäre Konstrukteur Béla Barényi zur damaligen Daimler-Benz AG kam und im Laufe der folgenden Jahrzehnte mit zahlreichen Patententwicklungen die bis heute gültige Aufteilung von aktiver und passiver Sicherheit im Automobilbau vorgab. Barényi gilt anerkannt auch als einer der wesentlichen Begründer von passiver Sicherheit.
Dieses "Erbe" setzt seit mittlerweile mehr als eineinhalb Jahrzehnten Prof. Rodolfo Schöneburg als Leiter des Entwicklungscenters "Passive Sicherheit und Betriebsfestigkeit" bei Mercedes-Benz in Sindelfingen eindrucksvoll fort. Die Aufgabe beinhaltet neben Erprobung und Berechnung auch die Unfallforschung.Schöneburgs grundlegende Arbeiten zum Thema Fahrzeugsicherheit wurden durch die Auszeichnung mit dem Paul Pietsch-Preis für das Sicherheitssystem PRE-SAFE und die Nominierung für den Deutschen Zukunftspreis 2003 sowie mit dem Award for Engineering Excellence der amerikanischen Sicherheitsbehörde NHTSA 2007 honoriert. Neben seiner Managementaufgabe veröffentlichte er zahlreiche Präsentationen, Aufsätze und Schriften. Seit Dezember 2008 ist er außerdem Honorarprofessor für Innovative Fahrzeugsicherheitskonzepte an der HTW Dresden.
Risikofaktor Mensch
Der heute oberste Forscher für passive Sicherheit im Daimler-Konzern gab auf dem 10. AUTOHAUS-Schadenforum in Potsdam zu bedenken, dass alle Anstrengungen der Automatisierung im Straßenverkehr und damit auch die Effektivität von Fahrerassistenzsystemen (FAS) durchaus Grenzen haben. Unfälle sind für ihn "eine Verquickung mehrerer Kausalitäten" und treten oftmals spontan auf, sind damit also rein zufällig und nicht vorhersehbar. Dadurch gebe es auch nur ein sehr begrenztes Potenzial durch gezielte Eingriffe. Bei diesen müsse dann aber die klare Strategie einer Unfallschwere-Minderung greifen. In allen Fällen sei der Mensch das entscheidende Glied in dieser Kette, jedoch bekanntermaßen in seinen Entscheidungen und Reaktionen nur bedingt berechenbar.
Die aktuellen Fahrerassistenzsysteme übernehmen derzeit nur (kleine) Teilaufgaben zur Entlastung bzw. Unterstützung des Fahrers. Nach Schöneburgs Einschätzung wird sich das auch in naher Zukunft nicht gravierend ändern, denn: "Auch autonomes Fahren hat seine Grenzen." Aus diesen Gründen gebe es nur die Chance einer Neuausrichtung der integralen Sicherheit, also die Betrachtung aller Faktoren und Randbedingungen, um die Anzahl und Schwere der Unfälle in Zukunft signifikant zu verringern.
Eingreifen vor dem Unfall
Ein hohes Potential der Minderung von Unfallfolgen und Personenschäden verspricht laut Schöneburg das frühzeitige Erkennen eines sich anbahnenden Unfalls und die gezielte Nutzung der (noch) verfügbaren Zeit bis zum tatsächlichen Crash: Indem beispielsweise deutlich vor dem Ereignis autonom eingegriffen und die extrem kurze Zeitphase ganz gezielt für ein Stabilisieren und Abbremsen des Fahrzeuges genutzt werde. Oberstes Ziel bleibe immer die komplette Vermeidung des Unfalles. Sofern ein solcher jedoch als unvermeidbar erkannt werde – was letztlich auch von zahlreichen anderen Faktoren (z.B. Verhalten des Unfallgegners, Geschwindigkeiten, Fahrbahnbeschaffenheit, -belag etc.) mit abhängt – müsse das eigene Fahrzeug gleichzeitig vorkonditioniert und auch auf den "worst-case" des Crashs entsprechend konfiguriert werden.
Trotz allem bleibe es parallel auch notwendig, permanent die Fahrer- und Fahrzeugreaktionen auszuwerten, zu verarbeiten und einen drohenden Unfall möglichst bis zum allerletzten Moment doch noch abzuwenden. Hierzu werde es auch in Zukunft notwendig sein, nicht nur die FAS, also die aktive Sicherheit, auf ein Optimum zu führen, sondern zudem die Umfeldsensorik bis hin zur Car-2-X-Kommunikation weiter zu entwickeln.
Neues "Pre-Pulse-System" – massiver Sicherheits-Zugewinn
Daimler verfolgt laut Schöneburg beim Insassen- und Partnerschutz bereits heute Ziele, die in vielerlei Hinsicht über derzeit bekannte Ansätze hinausgehen. Durch die verstärkte Nutzung der Vorunfallphase und des etablierten Pre-Safe-Gedankens ergäben sich damit auch komplett neue Möglichkeiten.
Diese im Daimler-Konzern als "neue passive Sicherheit" bezeichnete Strategie setzt dabei auf vor-auslösende und vor-anstoßende Systeme, wodurch die Insassenbelastungen bei einem Aufprall um weitere 30 bis 50 Prozent gesenkt werden können. Dabei werde das Prinzip der dem Hauptstoß entgegengesetzten Bewegung – das sogenannte "Fahrstuhlprinzip" – angewendet. Bei Mercedes-Benz wird diese Weiterentwicklung als "Pre-Pulse-System" als weiterer Insassen-Rundum-Schutz in die Serie eingeführt.
Der Sicherheitsexperte zeigte zudem in mehreren Video-Sequenzen, wie Insassen künftig durch diesen sogenannten "Pre-Safe-Impuls" bei unausweichlichen Unfällen nochmals besser geschützt werden. Einige Exponate der verbauten Komponenten dieser neuesten aktiven Sicherheitssysteme konnten die Forumsteilnehmer zudem vor Ort als Schnittmodelle in der Fachausstellung in Augenschein nehmen.
Eingebaute Kompatibilität ab Werk
Schöneburg hatte eine neue gecrashte S-Klasse mit nach Potsdam mitgebracht, die in beeindruckender Weise auch einem schweren Crash von 64 km/h mit 40 Prozent Überdeckung sehr gut standgehalten hat. Dieser Versuchsträger war einer der Magneten für das Fachpublikum. Die S-Klasse von Mercedes-Benz legte Prof. Schöneburg übrigens konstruktiv so aus, dass sie bei einem Zusammenstoß mit massenmäßig kleineren Fahrzeugen diesen hilft, Anstoßenergie in die Struktur des großen Fahrzeuges mit abzugeben. Branchenweit bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang der Crash, bei dem mit jeweils 50 km/h und 40 Prozent Überdeckung eine S-Klasse und ein neuer smart ineinander fuhren.
Beste
Überlebenschancen für smart-Insassen beim 100 km/h-Crash
Der smart als kleinstes, im Daimler-Konzern gefertigtes Fahrzeug, für dessen passive Entwicklung Schöneburg ebenfalls verantwortlich zeichnet, wurde durch die hoch kompatibel ausgelegte Vorbaustruktur der S-Klasse geradezu idealtypisch "mit geschützt". Die smart-Insassen hatten dadurch, das war das klare Fazit des Crashs, trotz der hohen Gesamtanstoßgeschwindigkeit von insgesamt 100 km/h "beste Überlebenschancen". Wobei andersherum nicht vergessen werden darf, dass auch der neue smart selbst nochmals – auf Basis seiner bewährten Tridion-Sicherheitsfahrgastzelle – weiter in Sachen Sicherheit optimiert wurde. Da Schöneburg auch einen smart mit nach Potsdam gebracht hatte, konnten die Teilnehmer des 10. AUTOHAUS-Schadenforums die entsprechenden Detaillösungen ebenfalls unmittelbar "vor Ort" in Augenschein nehmen.
Schöneburgs Credo zur Verkehrssicherheit
Trotz all der intensiven Anstrengungen würden auch auf lange Sicht Unfälle eine Begleiterscheinung der individuellen
Mobilität bleiben, so der Sicherheitsexperte des Daimler-Konzerns. Entscheidend dabei sei aber heute wie in Zukunft, so Schöneburg abschließend, dass alles dafür getan werde, um das Verletzungsrisiko der Insassen sämtlicher unfallbeteiligter Fahrzeuge sowie sonstiger eventuell an einem Unfall beteiligten Verkehrsteilnehmer so gering als nur irgendmöglich zu halten. (he/wkp)
75 Jahre Mercedes-Benz Unfallschutz
