Unfallschäden: Überkompensation?

Der alljährlich stattfindende Verkehrsgerichtstag in Goslar beschäftigt sich in diesem Jahr im Arbeitskreis II unter dem Arbeitstitel "Abschied vom fiktiven Schadensersatz?" mit der Frage, ob die Abrechnung von Unfallschäden auf Basis eines Sachverständigengutachtens überholt sein könnte. Hintergrund ist die Frage, ob ein Geschädigter durch Spielräume, die die Kfz-Sachverständigen haben, unzulässig bereichert sein könnte und ob nur noch eine konkrete Abrechnung zulässig sein soll. Angestoßen wurde diese Diskussion durch das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 22. Februar 2018 (Az. VII ZR 40/17), welches zwar werkvertragliche Ansprüche eines Werkbestellers beurteilt und sich somit im Baurecht bewegt, jedoch von verschiedenen Instanzgerichten mit gleichartiger Begründung für Schadensersatzansprüche eines Unfallgeschädigten aufgegriffen wurde. Es geht um die Frage einer "Überkompensation" im Schadensersatzrecht. BGH-Urteil vom 22. Februar 2018 zum Werkvertragsrecht Gegenstand des Rechtsstreits war die Schadensersatzklage von Bauherren gegen Bauunternehmer und Architekten wegen fehlerhafter Ausführung von Naturstein-, Fliesen- und Abdichtungsarbeiten am Gebäudeeigentum der Bauherren. Unter anderem verlangten die Bauherren - nach Veräußerung der Immobilie und somit ohne tatsächliche Behebung der Mängel - Schadensersatz i.H.v. 75 Prozent der fiktiven Mängelbeseitigungskosten. Nach bis dahin durchgängiger Rechtsprechung des BGH wurden derartige Zahlungsansprüche in Höhe fiktiver Mängelbeseitigungskosten zugestanden. An dieser Rechtsprechung hält der siebte Senat des BGH nun nicht mehr fest. Zur Begründung führt der BGH Folgendes aus: Der Werk-Besteller, der keine Aufwendungen zur Mängelbeseitigung tätigt, hat keinen Vermögensschaden in Form und Höhe dieser (nur fiktiven) Aufwendungen. Sein Vermögen ist im Vergleich zu einer mangelfreien Leistung des Unternehmers nicht um einen Betrag in Höhe solcher (fiktiven) Aufwendungen vermindert. Erst wenn der Besteller den Mangel beseitigen lässt und die Kosten hierfür begleicht, entsteht ihm ein Vermögensschaden in Höhe der aufgewandten Kosten. Eine Schadensbemessung nach fiktiven Mängelbeseitigungskosten bildet - so der BGH - das Leistungsdefizit im Werkvertragsrecht auch bei wertender Betrachtung nicht zutreffend ab. Vielmehr führt eine solche Schadensbemessung nach Auffassung des BGH häufig zu einer "Überkompensation" und damit zu einer nach allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätzen nicht gerechtfertigten Bereicherung des Bestellers. Diese Begründung führte dazu, dass nun diverse Gerichte auch in Kfz-Haftpflichtfällen die Erstattung von fiktiven Reparaturkosten zurückgewiesen haben. Urteile des LG Darmstadt Beispielsweise die 23. Kammer des Landgerichts (LG) Darmstadt dehnte das für das Werkvertragsrecht gesprochene Urteil des BGH vom 22. Februar 2018 in zwei Urteilen (Urteil vom 5. September 2018 - 23 O 386/17; Urteil vom 24. Oktober 2018 - 23 O 356/17) auf sämtliche Sachschadensfälle und damit sowohl auf kauf- oder mietrechtliche Gewährleistung als auch auf deliktische Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall aus. Das LG Darmstadt führt aus, dass nach seiner Auffassung für Schäden aus Verkehrsunfällen ein Geschädigter nach den gesetzlichen Bestimmungen nur die konkret angefallenen und nachgewiesenen unfallbedingten Reparaturkosten bis zur Grenze des wirtschaftlichen Totalschadens ersetzt verlangen kann. Das LG Darmstadt wörtlich: "Eine fiktive Berechnung auf Gutachtensbasis scheidet nunmehr aus". Lässt ein Geschädigter sein Fahrzeug nicht reparieren, kann er nach Meinung des LG Darmstadt nur den schadensbedingten Minderwert beanspruchen, der sich bezogen auf den Unfalltag aus der Wertdifferenz zwischen dem Fahrzeug im unbeschädigten und dem unfallbedingt beschädigten Zustand ergibt. Nach Meinung des LG Darmstadt scheidet aufgrund des Urteils des BGH vom 22. Februar 2018 zukünftig sogar ein fiktiver Ersatz für entgangene Nutzungen (Nutzungsausfallentschädigung) aus. Nicht nur dieses: Will der Geschädigte sein Fahrzeug instand setzen lassen - so das LG Darmstadt -, kann er unter Vorlage eines Kostenvoranschlages oder eines Gutachtens Freistellung von den Reparaturkosten verlangen mit der Maßgabe, dass die Instandsetzung später auf Verlangen des Schädigers/der Versicherung nachzuweisen ist und ein überschießender Betrag zurückzuerstatten ist. Die Abrechnung auf Basis eines Sachverständigengutachtens nach fiktiven Reparaturkosten wäre damit ausgeschlossen. Das LG Darmstadt äußerte insbesondere die Auffassung, dass die fiktive Abrechnung von Unfallschäden ein Einfallstor für Betrügereien sei. Gegen das Urteil des LG Darmstadt zum Aktenzeichen wurde Berufung eingelegt. Berufungsurteil des OLG Frankfurt Das OLG Frankfurt hob das vorgenannte Urteil des LG Darmstadt auf (Berufungsurteil vom 18. Juni 2019 - Az. 22 U 210/18). Das OLG hält die Auffassung des LG, wonach die fiktive Abrechnung eines Sachschadens auch im Deliktsrecht im Wege der Rechtsfortbildung und auch im Hinblick auf die Entscheidung des BGH vom 22. Februar 2018 unzulässig sein soll, für rechtsfehlerhaft. Das OLG führt im Berufungsurteil aus, dass nach der gesetzlichen Regelung des § 249 BGB in der Regel ein Anspruch des Geschädigten auf Ersatz der in einer Fachwerkstatt anfallenden Reparaturkosten besteht, dies unabhängig davon, ob der Geschädigte das Fahrzeug tatsächlich voll, minderwertig oder überhaupt nicht reparieren lässt. Das OLG nimmt hierbei Bezug auf das diesbezüglich bestätigende Urteil des sechsten Senats des BGH vom zuletzt 7. Februar 2017 (Az. VI ZR 182/16). Ziel des Schadensersatzes ist die Totalreparation; der Geschädigte ist nach schadensrechtlichen Grundsätzen sowohl in der Wahl der Mittel zur Schadensbehebung als auch in der Verwendung des vom Schädiger zu leistenden Schadensersatzes frei. Der Geschädigte ist lediglich im Rahmen des gesetzlich verankerten Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 249 Abs. 2 S. 1 BGB) gehalten, im Rahmen des ihm Zumutbaren den wirtschaftlicheren Weg einer Schadensbehebung zu wählen, sofern er die Kosten, die für die Schadensbeseitigung erforderlich sind, beeinflussen kann. Verlangt der Geschädigte den Ersatz fiktiver Reparaturkosten, genügt es im Allgemeinen, dass er den Schaden auf der Grundlage eines von ihm eingeholten Sachverständigengutachtens berechnet. Hierbei muss das Gutachten hinreichend ausführlich sein und das Bemühen erkennen lassen, dem konkreten Schadensfall "vom Standpunkt eines wirtschaftlich denkenden Betrachters" gerecht zu werden. Für Sachschäden verbleibt es somit nach dem Berufungsurteil des OLG Frankfurt bei der fiktiven Schadensberechnung. Zu den vom LG Darmstadt gemutmaßten "Betrügereien" führt das OLG aus, dass eine solche Auffassung die Kompetenz des LG übersteigt, da der Gesetzgeber eine fiktive Abrechnung - eben - vorsieht. Ausblick Ob die Urteile diverser Instanzgerichte die Kfz-Haftpflichtversicherer beflügeln werden, in der Praxis die Abrechnung von Unfallschäden nach fiktiven Reparaturkosten auf Basis von Sachverständigengutachten abzulehnen, wird sich noch zeigen. Letztlich wird auch hier wohl der BGH für dieses neu eröffnete Streitfeld in letzter Instanz ein Urteil zu sprechen haben. Dies wird dann allerdings Aufgabe des für Schadensersatzansprüche aus Verkehrsunfällen zuständigen Senats sein. Im Hinblick auf dessen durchgängige Rechtsprechung und im Hinblick auf die aktuelle Gesetzeslage sollte nach hier vertretener Auffassung nicht damit zu rechnen sein, dass eine fiktive Abrechnung von Unfallschäden abgeschafft wird. Kurzfassung 1. Nach dem Urteil des für Werkvertragsrecht zuständigen siebten Senats des BGH vom 22. Februar 2018 kann ein Werkbesteller, der keine konkreten Kosten für eine Mängelbeseitigung aufgewendet hat, keinen Vermögensschaden für nur fiktive Aufwendungen verlangen. Erst wenn ein Mangel beseitigt wurde und hierfür Kosten angefallen sind, besteht ein ersatzfähiger Vermögensschaden in Höhe dieser Kosten. Mit diesem Urteil ändert dieser BGH-Senat seine bisherige Rechtsprechung.2. Auf Grundlage dieses BGH-Urteils haben diverse Instanzgerichte - so unter anderem das LG Darmstadt in zwei Urteilen vom 22. Februar 2018 und 24. Oktober 2018 - in jüngster Zeit auch für Schadensersatzansprüche aus Verkehrsunfällen entschieden, dass eine fiktive Berechnung auf Gutachtensbasis ausscheidet.3. Das OLG Frankfurt hob in der Berufungsinstanz (Urteil vom 18. Juni 2019 - Az. 22 U 210/18) das erstinstanzliche Urteil des LG Darmstadt vom 24. Oktober 2018 auf. Nach Darlegungen des OLG Frankfurt ergibt sich aus der aktuellen Gesetzeslage, dass die Abrechnung von fiktiven Reparaturkosten nach einem Unfall auf Basis eines Sachverständigengutachtens sehr wohl möglich und rechtens ist.4. Das neue Streitfeld der fiktiven Abrechnung von Unfallschäden wird letztinstanzlich wohl von dem für Unfallsachen zuständigen Senat des BGH zu entscheiden sein. Kommentar Die Ausdehnung des sich aus dem vorliegenden Beitrag besprochenen Urteils des siebten Senats des BGH vom 22. Februar 2018 vom Werkvertragsrecht auf das Unfall-Schadensersatzrecht durch diverse Instanzgerichte erscheint auch bei zweiter Betrachtung doch einigermaßen erstaunlich. Schließlich hat der siebte Senat in seinem Urteil ausdrücklich darauf hingewiesen, dass seine Rechtsprechung wegen der Besonderheiten des Werkvertragsrechts nur für - eben - das Werkvertragsrecht gilt. Insofern sah der siebte BGH-Senat auch kein Erfordernis, zur Herbeiführung einer einheitlichen BGH-Rechtsprechung den Großen Senat anzurufen. Der siebte Senat in seinem Urteil wörtlich: "Soweit gemäß § 249 Abs. 2 BGB nach der Rechtsprechung des BGH auch fiktive Kosten als Schadensersatz verlangt werden können, steht dies nicht in Widerspruch zur vorliegenden Entscheidung, bei der es nicht um die Beschädigung einer Sache geht." Es sollte sich nach alledem keine Grundlage für Instanzgerichte ergeben, unter Heranziehung des BGH-Urteils vom 22. Februar 2018 mit der Zielrichtung der Abschaffung der fiktiven Abrechnung von Unfallschäden "Rechtsfortbildung" zu betreiben.Rechtsanwalt Rainer Bopp

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