VW-Musterfeststellungsklage: Überraschender Verhandlungserfolg

Nachdem beide Prozessparteien im Verfahren um die VW-Musterfeststellungsklage außergerichtliche Gespräche für gescheitert erklärt hatten, wurden sie vom Gericht nochmals an den Verhandlungstisch zurückgeholt. Dies außerhalb des Prozessverfahrens unter Leitung des OLG Präsidenten als Schlichter. In unerwartet kurzer Zeit führten diese Gespräche zu einem von beiden Seiten akzeptierten Ergebnis. Demnach sollen rund 260.000 der im Musterfeststellungsklageverfahren eingetragenen Verbraucher je nach Modell und Alter ihres Fahrzeuges Entschädigungen zwischen 1.350 und 6.257 Euro angeboten erhalten, im Durchschnitt etwa 15 Prozent des ursprünglichen Kaufpreises. Voraussetzung ist, dass sie noch im Besitz des Fahrzeuges sind und dieses vor 2016 gekauft haben. Zusätzlich übernimmt VW im Einzelfall bis zu 190 Euro Kosten für Rechtsberatung betreffend die Annahme des Vergleichs. Insgesamt soll dieser Vergleich VW bis zu 830 Millionen Euro kosten.Zur ErinnerungAm 30.9.2019 fand die erste mündliche Verhandlung in dem von der Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) gegen VW geführten Musterfeststellungsklageverfahren statt. Wir berichteten hierzu ausführlich in AUTOHAUS 20/2019. Die Klage umfasst 56 Anträge und Hilfsanträge mit dem Ziel, für die beigetretenen Verbraucher verbindlich dem Grunde nach feststellen zu lassen, dass VW die Kunden mit den Manipulationen an den EA 189-Motoren und der Reduzierung der Schadstoffemissionen im Messbetrieb vorsätzlich sittenwidrig geschädigt hat und deshalb zum Schadensersatz verpflichtet ist. Nach ersten Versuchen, den komplexen Prozessstoff zu sortieren, wurden im zweiten Verhandlungstermin am 18.11.2019 die einzelnen Anspruchsgrundlagen dann konkreter diskutiert und die Parteien aufgefordert, sich zu ihrer Verhandlungsbereitschaft zu erklären.Stand des VerfahrensNach den bisherigen Verhandlungsterminen muss wohl davon ausgegangen werden, dass der zuständige Senat des OLG Braunschweig vertragliche Ansprüche der Verbraucher gegen VW mangels direkter Vertragsbeziehung ebenso ausscheiden lässt wie deliktische Ansprüche solcher Verbraucher, die ihr Fahrzeug erst nach der Veröffentlichung der Problematik im September 2015 gekauft haben. Zudem würde der befasste Senat die Verbraucher voraussichtlich in der Pflicht sehen, sich die mit ihrem Fahrzeug gefahrenen Kilometer bei der Bemessung eines Schadens als Nutzungsvorteil anrechnen zu lassen.VerhandlungspositionenDer Kläger musste nach dem Stand des Verfahrens also zumindest in erster Instanz damit rechnen, einen Erfolg der Musterfeststellungsklage allenfalls für diejenigen Beteiligten einfahren zu können, die ihr Fahrzeug vor September 2015 gekauft haben. VW hoffte, sich auch insoweit vom Vorwurf der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung befreien zu können und argumentierte, dass die mit dem EA 189-Motor verkauften Fahrzeuge uneingeschränkt funktions- und gebrauchstauglich waren. Jedenfalls aber kalkulierte VW im Falle einer Verurteilung mit der Reduzierung des drohenden Schadens im Hinblick auf die Laufleistung der zwischenzeitlich bis zu neun Jahre alten Fahrzeuge und den Abzug einer entsprechenden Nutzungsentschädigung.Hier setzten die Hoffnungen des Klägers an, der auf verschiedene beim BGH aktuell anhängige Revisionsverfahren spekulierte, insbesondere auf einen in Karlsruhe als nächstes für den 5.5.2020 im Verfahren VI ZR 252/19 angesetzten Verhandlungstermin. In diesem Verfahren fordert ein Einzelkläger von VW als Schaden die Erstattung des vollen Kaufpreises, den er 2014 für sein gebrauchtes Fahrzeug mit Erstzulassung 2012 bezahlt hat. Beim OLG Koblenz (Az. 5 U1318/18) hatte er im Juni 2019 mit seiner Klage überwiegend Erfolg, abgezogen wurde ihm jedoch die Nutzungsentschädigung für 52.000 gefahrene Kilometer. Beide Parteien haben gegen das Urteil Revision eingelegt. Sollte der Kläger beim BGH recht bekommen, wäre die Position der im Musterfeststellungsklageverfahren eingetragenen Verbraucher grundlegend verbessert und der Druck auf VW wesentlich erhöht. Anderenfalls würde für VW aber jede Motivation für eine gütliche Regelung entfallen.Einigung und AbwicklungVor diesem Hintergrund eines möglichen "Hop oder Top" ist der gefundene Kompromiss zu verstehen, der deshalb auch vorsieht, dass sich die betroffenen Fahrzeugbesitzer bereits bis spätestens 22. April entscheiden müssen, ob sie ein entsprechendes Angebot annehmen. Ein derart ambitionierter Zeitplan lässt sich nach den Regularien des Musterfeststellungsklageverfahrens wegen des nach § 611 ZPO für einen Vergleichsabschluss dort vorgeschriebenen Prozederes gar nicht darstellen. Zunächst hätte der zuständige Senat dem Vergleich nach Prüfung der Ausgewogenheit zuzustimmen. Im Anschluss müsste der Vergleich jedem einzelnen der mehr als 400.000 im Prozessregister eingetragenen Beteiligten förmlich zugestellt werden mit der Möglichkeit, innerhalb eines Monats gegenüber dem Gericht den Austritt aus dem Vergleich zu erklären. Alleine für die Zustellungen wären ein immenser Zeitaufwandund Kosten von 1,5 Millionen Euro zu veranschlagen. Wirksam und vom Gericht beschlossen werden könnte der Vergleich dann erst, wenn feststeht, dass weniger als 30 Prozent der angemeldeten Verbraucher ihren Austritt erklärt haben.Vorliegend haben sich die Parteien deshalb offensichtlich auf eine Einigung außerhalb des Gerichtssaals und auf die Abwicklung über eine Internetplattform mit unabhängiger Überwachung durch Dritte verständigt. Dies mit der Verpflichtung des VZBV zur Klagerücknahme im Zuge der Abwicklung. Eine Regelung bezüglich der Kosten des Musterfeststellungsverfahrens wurde nicht bekanntgegeben.Die Übriggebliebenen, also denjenigen, die ein Vergleichsangebot von VW nicht akzeptieren oder erst gar nicht erhalten, müssen ihr Schicksal dann selbst in die Hand nehmen und sich entscheiden, ob sie nach Rücknahme der Musterfeststellung ein eigenes Klageverfahren einleiten. Verjährung kann ihnen wegen der Hemmungswirkung der Musterfeststellungsklage zunächst nicht entgegengehalten werden.Kurzfassung1. Der Verbraucherzentrale Bundesverband und VW haben sich bezüglich des Musterfeststellungsklageverfahrens unter Leitung eines Schlichters überraschend schnell auf eine Vergleichslösung verständigt.2. Die Einigung erfolgte vor dem Hintergrund anberaumter Verhandlungstermine beim BGH in Einzelklageverfahren. Abhängig von einer Stellungnahme des BGH zu Rechtsfragen auch des Musterfeststellungsklageverfahrens hätten beide Parteien den Verlust wesentlicher Rechtspositionen zu befürchten gehabt.3. Vereinbart ist eine schnelle und außergerichtliche Abwicklung. Diese sieht Abfindungsangebote von VW an etwa 260.000 Beteiligte vor, die noch im Besitz eines betroffenen Fahrzeuges sind, das sie vor 2016 gekauft haben. Je nach Modell und Alter des Fahrzeuges sollen Beträge zwischen 1.350 und 6.257 Euro angeboten werden.4. Die Musterfeststellungsklage wird im Zuge der Abwicklung zurückgenommen. Diejenigen, die mit dem Abfindungsangebot nicht einverstanden sind oder ein solches gar nicht erhalten, haben dann die Möglichkeit, selbst Klage einzureichen.KommentarDer eigentliche Kompromiss der Verständigung betrifft die im Verfahren offene Frage, ob VW die Käufer der EA 189-Fahrzeuge vor September 2015 vorsätzlich sittenwidrig und damit deliktsrechtlich relevant geschädigt hat. Bislang hatte VW das Risiko rechtskräftiger negativer Entscheidungen hierzu stets durch teils sehr großzügige Einzelvergleiche abwenden können. Eine grundsätzliche Klärung der Rechtsfrage durch den BGH mit entsprechender Signalwirkung scheint sich nunmehr aber nicht mehr verhindern zu lassen. Im schlimmsten Fall drohen VW Schadensersatzansprüche, die weit über das Volumen der aktuellen Vereinbarung hinausgehen. Alleine hier dürfte das Motiv liegen, faktisch Zugeständnisse zu machen und vorliegend mit Eile Entschädigungen anzubieten, selbstverständlich ohne Anerkennung einer Rechtspflicht.Auf der anderen Seite haben sich die Geschäftemacher der Prozessindustrie offensichtlich bereits Gedanken gemacht, wie sie mit den am Musterfeststellungsklageverfahren Beteiligten wieder ins Geschäft kommen können. Zu lesen ist von der Gründung eines neuen Prozessfinanzierers, der den Betroffenen den von VW angebotenen Betrag garantieren soll, wenn sie den werbenden Kanzleien Klageauftrag für höhere Schadenssummen erteilen und den eventuell übersteigenden Erfolg teilen. Zweifel an der Unzulässigkeit solcher Modelle darf es eigentlich gar nicht geben.Rechtsanwalt Robert Glocker

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