Die atmosphärische Mischung des Verkehrsgerichtstages, der Ende Januar seit Jahrzehnten den inoffiziellen Startschuss ins neue Schadenjahr markiert, funktionierte auch 2020. Eine traditionsreiche und geschichtsträchtige Innenstadt – mit zugegebenermaßen teils durchaus angestaubten Veranstaltungsorten – bildet die pittoreske Kulisse für die Beschäftigung mit aktuellen und zukunftsträchtigen Themen weit über Bußgeldverfahren und Führerscheinfragen hinaus. Neben den offiziellen Arbeitskreisen, über deren Ergebnisse wir im AUTOHAUS Schadenmanager bereits ausführlich berichteten, bildeten die vielen großen und kleinen Rahmenveranstaltungen das besondere Flair, das wohl tatsächlich nur im Harz aufkommt – in Anlehnung an einen bekannten spanischen Fußballlehrer könnte man es vielleicht mit „Goslar oder nix“ zusammenfassen.
Klassentreffen der Schadenwelt
Auch wenn einige Unternehmen wie die Schaden-Schnell-Hilfe GmbH, WOM/Copart oder CARTV ihre bisherigen Stammtische-Formate in diesem Jahr nicht mehr fortgeführt haben, waren alle Protagonisten einmal mehr vertreten: Unter anderem luden ADAC, Allianz, die ARGE Verkehrsrecht, AVUS SSH, DEKRA, DEVK, GDV, Goslar Institut/HUK-Coburg, GTÜ, Interschaden/Van Ameyde die Schadenwelt ein. Guido Kutschera, Geschäftsführer der DEKRA Automobil GmbH, brachte es in seiner unnachahmlichen Weise treffend auf den Punkt: "Goslar ist eine Art Klassentreffen der Schadenbranche und das ist auch gut so."
Wenn es trotzdem während des Verkehrsgerichtstags in der Innenstadt 2020 etwas weniger belebt wirkte als in den Jahren zuvor, lag dies hauptsächlich daran, dass der Trend offensichtlich von großen Abendveranstaltungen zu kleineren, gezielt abgehaltenen Besprechungen mit Kunden und Partnern geht. Immerhin sind alle wichtigen Marktplayer vor Ort und die große Zahl parallel abgehaltener, über die ganze Stadt verstreute Stammtische, Medienabende und Branchentreffs machen es ohnehin unmöglich, allen Veranstaltern und ihren Einladungen gleichermaßen gerecht zu werden.
"Kai, fahr Deinen Schrott vor dem Haus weg"
Auffällig auch, dass althergebrachte Traditionen wie der WOM-Copart-Stammtisch offensichtlich ganz gezielt "über Bord geworfen" wurden, um sich zeitgemäßer und deutlich publikumswirksamer ins Gespräch zu bringen als mit Präsentationen und kaltem Buffet: Der neue Copart-Geschäftsführer Kai Siersleben ließ drei Lkw aus seiner Logistikflotte inklusive Unfallfahrzeuge strategisch an allen Brennpunkten des Verkehrsgerichtstages auffahren: die Abschleppfahrzeuge mit ihren blinkenden Signalanlagen dürften vor dem H+ Hotel, auf dem Parkplatz der Kaiserpfalz und mitten auf dem Marktplatz zwischen Schiefer und Kaiserworth eines der am meisten fotografierten Motive des Verkehrsgerichtstags 2020 gewesen sein. Der Plan ging auf, Sierslebens Unternehmen war vom Start weg in aller Munde und wurde Ziel einer der treffsicheren Pointen von Guido Kutschera im Rahmen des DEKRA-Abends: "Bevor wir anfangen: Kai, fahr doch bitte den Schrott da draußen weg."
VGT will sich modernisieren
Passend dazu bemüht sich auch der Traditionsstandort Goslar gemeinsam mit dem Deutschen Verkehrsgerichtstag darum, den Kongress moderner und attraktiver zu gestalten. Themen wie Aggressivität im Straßenverkehr, Elektrokleinstfahrzeuge oder Fahranfänger seien auch für den juristischen Nachwuchs interessant, so VGT-Präsident Professor Ansgar Staudinger, der als ersten Schritt die Auslobung eines Promotionspreises ankündigte. Angesichts des Altersschnitts in Goslar ist die Verjüngung der Teilnehmer sicherlich eine der wichtigen Aufgaben für die kommenden Jahre, um das "branchenweite Klassentreffen" auch der nächsten Generation von Verkehrsrechtlern schmackhaft zu machen.
Risiken der Digitalisierung
Eine eher unliebsame Aufmerksamkeit der – vermutlich – jüngeren Altersstufen wurde ebenfalls im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung des Verkehrsgerichtstages bekannt: Der modernisierte Internetauftritt wurde Ziel eines Hackerangriffs, die Homepage war vorübergehend nicht zu erreichen, was die geplante Live-Übertragung massiv beeinträchtigte. Auch im Nachgang zu Goslar 2020 war eine überlagernde Tonspur, die Teile der Eröffnungsansprachen unverständlich macht, auf der VGT-Homepage minutenlang deutlich zu hören. Die digitalen Störenfriede erinnerten mit der öffentlichkeitswirksamen Aktion auf ihre Weise daran, dass der Wandel der Mobilität und autonome Fahrzeuge auch neue Sicherheitsrisiken bergen
Neuausrichtung statt Umzug
Die Transformation der altehrwürdigen Branchenveranstaltung im Harz ist also so oder so in vollem Gange. Ob sie gemeinsam gelingt, ist noch offen – wenn dies klappt, dann aber nur am bewährten Ort. Schon vor der Umfrage unter den Besuchern des letztjährigen Verkehrsgerichtstags war in Butterhanne, Kaiserworth und Schiefer 2019 immer wieder zu hören: "Wenn die Veranstaltung nicht mehr in Goslar stattfindet, kommen wir auch nicht mehr." Ein Umzug in ein noch so modernes Messezentrum in Leipzig oder anderswo würde die Balance zwischen Tradition und Zukunft, die den VGT ausmacht, unwiederbringlich zerstören und niemandem helfen. Deswegen wird es auch beim 59. Verkehrsgerichtstag am 28. und 29. Januar 2021 wieder heißen: Goslar oder nix. Karsten Thätner