Schadensersatzansprüche wegen thermofenster: Auch ohne vorsätzliche Sittenwidrigkeit

Ein in der Praxis wichtiges Urteil hat der EuGH am 21.03.2023 verkündet. Es betrifft primär mögliche Schadensersatzansprüche der Käufer von Dieselfahrzeugen mit Thermofenster gegen den Hersteller, kann aber auch zu erweiterten Sachmängelhaftungsansprüchen gegen den Gebrauchtwagenverkäufer führen. Entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BGH leitet der EuGH aus den zunächst rein verwaltungsrechtlichen Vorschriften des EU-Typgenehmigungsverfahrens auch einen beabsichtigten Schutz für Neu- und Gebrauchtwagenkäufer ab. Damit können den Käufern solcher Fahrzeuge nunmehr deliktische Schadensersatzansprüche nach § 823 Abs. 2 BGB wegen Verletzung eines Schutzgesetzes zustehen. Ausreichend ist hierfür fahrlässiges Handeln des Herstellers. Schadensersatzansprüche sind nicht mehr von einer vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung abhängig.Im Gebrauchtwagenhandel muss in der Folge wohl damit gerechnet werden, dass beim Verkauf betroffener Dieselfahrzeuge mit Thermofenster auch eine fehlerhaft ausgestellte Konformitätsbescheinigung als Sachmangel gerügt werden kann, da diese das Fahrzeug unzutreffend als den Vorschriften des Typgenehmigungsverfahrens entsprechend ausweist.KURZFASSUNG1. Im Vorabentscheidungsverfahren hat der EuGH auf Vorlage des LG Ravensburg den Vorschriften des EU-Typgenehmigungsverfahrens Schutzfunktion für die Käufer von Neu- und Gebrauchtfahrzeugen zugesprochen.2. Die bisherige Rechtsprechung des BGH wird sich insoweit anzupassen haben. Schadensersatzansprüche wegen unzulässiger Thermofenster lassen sich künftig alleine mit dem Verstoß gegen Bestimmungen des Typgenehmigungsverfahrens begründen und bedürfen nicht mehr der Darlegung einer vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung.3. Käufer von betroffenen Gebrauchtfahrzeugen können damit künftig Sachmängelhaftungsansprüche wohl auch auf eine unzutreffend ausgestellte Konformitätsbescheinigung stützen.Der FallDer Kläger kaufte im März 2014 beim Händler einen gebrauchten Mercedes C 220 CDI Euro 5 mit dem Motortyp OM 651, EZ 3/2013 und einem Kilometerstand von 28.591. Das Fahrzeug ist unstreitig mit einem Thermofenster ausgestattet und das Motorsteuergerät reduziert in nicht genau feststehenden Außentemperaturbereichen auch unter üblichen Betriebsbedingungen die Abgasrückführung. Nachdem er mit dem Fahrzeug ca. 60.000 Kilometer gefahren ist, verlangt der Kläger vom Hersteller die Erstattung des mit knapp 30.000 Euro bezahlten Kaufpreises. Dabei stehen auch Fragen der Nutzungsentschädigung im Raum.Der mit der Klage befasste Einzelrichter beim LG Ravensburg sieht einen Schadensersatzanspruch des Klägers gegen die Daimler-Benz AG bereits wegen der Verletzung der Vorschriften des EU-Typgenehmigungsverfahrens. An einem solchen Urteil sieht er sich aber wegen der entgegenstehenden Beurteilung des BGH gehindert. Damit wäre der Einzelrichter eigentlich nach der Prozessordnung (§ 348 ZPO) gehalten gewesen, den Fall von grundsätzlicher Bedeutung seiner aus zwei weiteren Richtern bestehenden Kammer zur gemeinsamen Entscheidung durch das Kollegialgericht vorzulegen. Offensichtlich fürchtete er aber, dort überstimmt zu werden. Er entschied sich deshalb für eine direkte Vorlage an den EuGH zur Vorabentscheidung über die von ihm gewünschte Auslegung und Anwendung der Vorschriften des EU-Typgenehmigungsverfahrens.Verfahren der VorabentscheidungArt. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU gibt den Gerichten der Mitgliedstaaten die Möglichkeit, in eigenen Verfahren relevante Auslegungsfragen zum EU-Recht vorab dem EuGH vorzulegen. Dessen Entscheidung ist dann verbindlich. Für letztinstanzlich entscheidende Gerichte der Mitgliedstaaten ist die Anrufung des EuGH in Fragen der Auslegung von EU-Recht verpflichtend. Gewährleistet werden soll so die einheitliche Anwendung des europäischen Rechts.Die AusgangslageVorliegend geht es um die Auslegung der 2014 geltenden Rahmenrichtlinie 2007/46/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Betriebserlaubnis für Kraftfahrzeuge. Diese Richtlinie wurde zwischenzeitlich zum 01.09.2020 ohne hier maßgebliche Änderungen ersetzt durch die Verordnung (EU) 2018/858.Das Ziel beider Verordnungen war bzw. ist insbesondere auch die Vorgabe einheitlicher Standards als Voraussetzung der Typgenehmigung um eine hohe Verkehrssicherheit, einen hohen Gesundheits- und Umweltschutz, rationelle Energienutzung und einen wirksamen Schutz gegen Missbrauch zu gewährleisten. Die dazugehörigen technischen Vorschriften für die Typgenehmigung finden sich in der Verordnung Nr. 715/2007, u. a. dort in Art. 5 mit der Verpflichtung der Hersteller, ihre Fahrzeuge so zu konstruieren, dass die das Emissionsverhalten beeinflussenden Bauteile unter normalen Betriebsbedingungen die Einhaltung der vorgegebenen Emissionsgrenzwerte gewährleisten.Die Wirkung der Abgasreinigung und des Emissionskontrollsystems verringernde Abschalteinrichtungen sind demnach unzulässig. Von diesem Grundsatz sind lediglich drei Ausnahmen definiert, unter anderem für notwendige Einrichtungen, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten (Art. 5 Abs. 2a der VO). Auf diese Ausnahmevorschrift hatten sich die Hersteller zur Rechtfertigung der in den Motoren installierten Thermofenster stets berufen, da eine damit verbundene Reduzierung der Abgasreinigung Ablagerungen im Motor und einen damit verbundenen vorzeitigen Verschleiß vermindern bzw. verhindern sollte als Beitrag zur Betriebssicherheit des Fahrzeuges. Einer solchen Interpretation des Rahmens zulässiger Abschalteinrichtungen ist der EuGH jedoch erstmals mit seinem Urteil vom 17.12.2020 (C-693/18) und mit weiteren Entscheidungen in der Folge entgegengetreten.Für den maßgeblichen Zeitraum vor diesen Entscheidungen sind die deutschen Gerichte ganz überwiegend davon ausgegangen, dass den Herstellern ein Interpretationsspielraum zugestanden wird und deshalb vorsätzlich sittenwidriges Handeln als Grundlage für Schadensersatzansprüche ausscheidet. Weiter hatte insbesondere der BGH in verschiedenen Klageverfahren gegen VW und Mercedes entschieden, dass die Vorschriften des Typgenehmigungsverfahrens und das Verbot in § 27 der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung, neue Fahrzeuge ohne gültige Übereinstimmungsbescheinigung in den Verkehr zu bringen, nicht dem Schutz der Fahrzeugverkäufer vor ungewollten Kaufentscheidungen dienen (so unter anderem BGH VII ZR 190/20; 286/20; 321/20 und 322/20 zu demselben Motortyp OM 651).Urteil des EuGHDer EuGH sieht die Sache anders als der BGH und hat auf Vorlage entschieden, dass die Vorschriften des EU-Typgenehmigungsverfahrens neben den allgemeinen Rechtsgütern des Umweltschutzes im Fall des Thermofensters auch die Einzelinteressen der Fahrzeugkäufer gegenüber dem Hersteller schützen.Das Verbot von Thermofenstern in Art. 5 der VO Nr. 715/2007 ist demnach in den Kontext des gesamten Typgenehmigungsverfahrens zu setzen. Eine Typgenehmigung dürfen nur solche Fahrzeuge erhalten, die umfänglich den technischen Vorgaben und insbesondere den Emissionsbestimmungen entsprechen. Mit der Übereinstimmungsbescheinigung bestätigt der Hersteller für jedes einzelne Fahrzeug, dass dieses dem genehmigten Fahrzeugtyp entspricht und somit alle technischen Vorgaben einhält.Nachdem diese Bestätigung zwingende Voraussetzung für die Zulassung des Fahrzeuges im Straßenverkehr ist, kann der Käufer eines Fahrzeuges "vernünftigerweise erwarten, dass die Verordnung Nr. 715/2007 und insbesondere deren Art. 5 bei diesem Fahrzeug eingehalten werden". Unzulässige Abschalteinrichtungen können darüber hinaus zum Verlust der Typgenehmigung und zur Ungültigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung führen, wodurch dem Käufer möglicherweise Schaden entstehen kann, wenn der Betrieb des Fahrzeuges untersagt wird oder die Möglichkeiten der Zulassung des Verkaufs beeinträchtigt werden. Der EuGH sieht deshalb auch ein Schutzbedürfnis der Fahrzeugkäufer.In der Konsequenz der Entscheidung wird der Einzelrichter wie beabsichtigt dem Kläger Schadensersatz wegen des Thermofensters in noch zu klärender Höhe zusprechen können, weil es sich um eine verbotene Abschalteinrichtung handelt und der Hersteller anhand des Verbots in Art. 5 der VO Nr. 715/2007 den Gesetzesverstoß zumindest hätte in Betracht ziehen müssen. Die Rechtsprechung des BGH wird sich insoweit anzupassen haben.Rechtsanwalt Robert Glockerkanzlei@raehaug-partner.dewww.haug-partner.deKOMMENTARViele werden schon gar keine Lust mehr haben, sich noch mit den Folgen des Dieselskandals zu beschäftigen. Die Aufarbeitung durch die Justiz dauert aber immer noch an, sowohl im strafrechtlichen Bereich als auch, was die immer noch in großen Zahlen anhängigen Zivilprozesse angeht. So sollen alleine beim BGH derzeit einschlägig noch mehr als 1.900 Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden zur Entscheidung anstehen. Die meisten Verfahren richten sich mittlerweile gegen die Hersteller selbst. Für den Gebrauchtwagenhandel ist es aber weiterhin ratsam, sich bezüglich neuer Entscheidungen auf dem Laufenden zu halten, um am Ende teure Fehler vermeiden zu können.Rechtsanwalt Robert Glocker

Kommunikation beim Autokauf: WhatsApp ist im Kommen

Rückblick 2024: Gebrauchtwagen kostete im Schnitt 26.942 Euro

Toyota Urban Cruiser: Mit Schützenhilfe von Suzuki

Brüssel vor dem Aus: Kein Sozialplan für 3.000 Audi-Arbeiter

Autohaus-Verkaufspläne von Mercedes: Konstruktive Gespräche

Alle Schlagzeilen

Schadensersatzansprüche wegen thermofenster: Auch ohne vorsätzliche Sittenwidrigkeit

MEISTGELESEN

Stellantis: Deutschland-Geschäft unter neuer Leitung

Mercedes-Benz: Vier Wechsel im Vorstand

VW-Warnstreik: IG-Metall-Chefin "stinksauer und fassungslos"

STELLENANGEBOTE

Werkstattmeister Karosserie (m/w/d)

Servicetechniker (m/w/d)

KFZ-Mechatroniker (m/w/d)

KFZ - Mechatroniker (M/W/D) - Ferrari

Leiter IT (w/m/d)

WEITERLESEN

NEWSLETTER