Arbeitsrecht: Bindungswirkung

KURZFASSUNG1. Gemäß § 109 GewO kann jeder Arbeitnehmer nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses unabhängig von dessen Dauer ein qualifiziertes Arbeitszeugnis verlangen. Das Zeugnis muss klar und verständlich formuliert sein. Das Zeugnis muss berufsfördernd wohlwollend sein.2. Nach der Rechtsprechung des BAG (Az. 5 AZR 560/58) ergibt sich als oberster Grundsatz für ein qualifiziertes Arbeitszeugnis: Das Zeugnis muss wahr sein.3. Der Arbeitnehmer hat keinen Anspruch darauf, dass der Arbeitgeber das qualifizierte Arbeitszeugnis mit einer Dankes- und Wunschformel beendet. Dem Arbeitgeber steht nach der Rechtsprechung des BAG (Az. 9 AZR 146/21) eine "negative Meinungsfreiheit" zu, sich diesbezüglich nicht zu äußern.4. Nach dem Urteil des BAG vom 6. Juli 2023 (Az. 9 AZR 272/22) verstößt der Arbeitgeber gegen das gesetzliche Maßregelungsverbot des § 612a BGB, wenn der Arbeitnehmer die Korrektur einer ersten Zeugnisfassung verlangt und der Arbeitgeber daraufhin in einer weiteren Zeugnisfassung die ursprünglich vorhandene Dankes- und Wunschformel weglässt. In einem solchen Fall ist der Arbeitgeber an die Verwendung der Dankes- und Wunschformel im Arbeitszeugnis gebunden.Scheidet ein Arbeitnehmer aus dem Arbeitsverhältnis aus, so hat er einen Anspruch auf ein qualifiziertes Arbeitszeugnis. Bei der Formulierung des Zeugnisses weichen die Vorstellungen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer sehr häufig voneinander ab. Kommt es zu keinem Einvernehmen, hat oft genug das Arbeitsgericht das letzte Wort. Zum Inhalt des Arbeitszeugnisses hat die Rechtsprechung über viele Jahre hinweg klare Vorgaben aufgestellt, welche Formulierungen im Arbeitszeugnis zulässig oder unzulässig oder gar verpflichtend sind. Mit jüngst veröffentlichtem Urteil vom 6. Juni 2023 (Az. 9 AZR 272/22) entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) zur Bindungswirkung von Formulierungen aus einem vorangegangenen Zeugnistext.Der FallAufgrund Eigenkündigung einer Arbeitnehmerin endete das rund dreieinhalb Jahre bestehende Arbeitsverhältnis mit der Arbeitgeberin. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses erteilte die Arbeitgeberin der Arbeitnehmerin ein qualifiziertes Arbeitszeugnis. Der letzte Absatz des Zeugnisses lautete:"Frau D verlässt unser Unternehmen auf eigenen Wunsch. Wir danken für ihre wertvolle Mitarbeit und bedauern es, sie als Mitarbeiterin zu verlieren. Für ihren weiteren Berufs- und Lebensweg wünschen wir ihr alles Gute und auch weiterhin viel Erfolg."Nachfolgend forderte die Arbeitnehmerin die Arbeitgeberin auf, das Arbeits- und Sozialverhalten im Arbeitszeugnis besser zu bewerten. Der Arbeitgeber formulierte das Zeugnis in dieser Hinsicht um. Auch die zweite Zeugnisfassung enthielt als letzten Satz wiederum die obige Dankes- und Wunschformel. Auch die zweite Zeugnisfassung fand nicht das Gefallen der Arbeitnehmerin und sie forderte wiederum Korrekturen. Der Arbeitgeber entsprach auch diesem Wunsch. Allerdings endete das qualifizierte Arbeitszeugnis in der dritten Fassung nun mit folgendem Satz: "Frau D verlässt unser Unternehmen auf eigenen Wunsch." Die obige Dankes- und Wunschformel war im Zeugnis nicht mehr vorhanden. Die Arbeitgeberin wies das Verlangen der Arbeitnehmerin zur Aufnahme einer solchen das Zeugnis abschließenden Formulierung im Zeugnis zurück. Es kam zum Prozess durch alle Instanzen bis hin zum BAG.Gesetzliche Grundlage§ 109 GewO stellt die gesetzliche Grundlage für jegliches Arbeitszeugnis dar. Hiernach hat jeder Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch auf ein schriftliches Zeugnis, dies unabhängig von der Dauer des Arbeitsverhältnisses. Das Zeugnis muss mindestens Angaben zu Art und Dauer der Tätigkeit enthalten (= einfaches Zeugnis). Der Arbeitnehmer kann verlangen, dass sich die Angaben im Zeugnis darüber hinaus auf Leistung und Verhalten im Arbeitsverhältnis erstrecken (= qualifiziertes Arbeitszeugnis). Nach § 109 Abs. 2 GewO gilt: "Das Zeugnis muss klar und verständlich formuliert sein. Es darf keine Merkmale oder Formulierungen enthalten, die den Zweck haben, eine andere als aus der äußeren Form oder aus dem Wortlaut ersichtliche Aussage über den Arbeitnehmer zu treffen." Aus dieser schwer verständlichen Formulierung wird abgeleitet, dass ein Arbeitszeugnis zugunsten eines Arbeitnehmers berufsfördernd wohlwollend zu sein hat.WahrheitspflichtDas BAG hat sich bereits mit Urteil vom 23. Juni 1960 (Az. 5 AZR 560/58) mit dem Wahrheitsgehalt von Arbeitszeugnissen auseinandergesetzt. Nach den Darlegungen des BAG ergibt es sich aus einer "zweiseitigen Zielsetzung", welchen Inhalt ein Zeugnis haben muss. Einerseits soll das Zeugnis dem Arbeitnehmer als Unterlage für eine Neubewerbung dienen; seine Belange sind gefährdet, wenn er im Zeugnis unterbewertet wird. Andererseits soll das Zeugnis zur Unterrichtung eines Dritten - eines neuen Arbeitgebers - dienen; dessen Belange sind gefährdet, wenn der Arbeitnehmer im Zeugnis überbewertet wird. Es ergibt sich - so das BAG - als oberster Grundsatz (!) aus dem erforderlichen Ausgleich dieser widerstrebenden Interessen: Das Zeugnis muss wahr sein.Keine grundsätzliche Verpflichtung zur Dankes- und WunschformelWohl die meisten Arbeitgeber sind dazu übergegangen, Schlussformeln in die Arbeitszeugnisse aufzunehmen, mit denen das Bedauern über das Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis zum Ausdruck gebracht wie auch Dank für geleistete Arbeit ausgesprochen wird. Hieraus resultiert jedoch nach der Rechtsprechung des BAG (Urteil vom 25. Januar 2022 - Az. 9 AZR 146/21) keine "Üblichkeit" für eine Zeugnisformulierung, die von den Arbeitgebern verpflichtend zu beachten wäre. Eine solche Üblichkeit oder gar Verpflichtung ergibt sich nicht aus § 109 GewO, darüber hinaus steht dem Arbeitgeber nach Auffassung des BAG eine grundgesetzlich geschützte "negative Meinungsfreiheit" zu. Wäre eine Dankes- und Wunschformel integraler Bestandteil eines qualifizierten Zeugnisses, so ergäbe sich die Verpflichtung des Arbeitgebers, innere Gedanken und Gefühle wegen des aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidenden Arbeitnehmers zu äußern. Eine solche Verpflichtung verstieße jedoch unzulässigerweise gegen die Meinungsfreiheit des Arbeitgebers. In der Konsequenz kann also ein Arbeitnehmer eine das Zeugnis abschließende Dankes- und Wunschformel nicht verlangen und auch nicht gerichtlich durchsetzen, auch nicht unter Beachtung der Grundsätze der wohlwollenden Zeugnisformulierung, der Zeugnisklarheit und der Zeugniswahrheit. Es gilt die nachstehende Ausnahme.KOMMENTAREs ist nachvollziehbar, dass sich Arbeitgeber mit einem ausgeschiedenen Arbeitnehmer nicht weiter arbeitsintensiv auseinandersetzen möchten. Dies betrifft auch den Inhalt eines Arbeitszeugnisses. In der Konsequenz werden deshalb die Formulierungswünsche von Arbeitnehmern sehr häufig kritiklos und streitvermeidend akzeptiert. Dies führte dazu, dass es bald nur noch Arbeitszeugnisse gibt, welche in Schulnoten umgesetzt mit der Note "1" zu bewerten sind. Der vom BAG aufgestellte "oberste Grundsatz" (!) der Zeugniswahrheit bleibt hierbei auf der Strecke. Der Aussagewert eines Arbeitszeugnisses darf heutzutage insbesondere daran gemessen werden, wie umfangreich - und über formelhafte Versatzstücke hinausgehend - das Arbeitszeugnis abgefasst wurde. In der Regel ergibt sich hieraus das wohlwollende und wahrhafte Bemühen des letzten Arbeitgebers, den ausgeschiedenen Arbeitnehmer zu beurteilen. Auch sollte für ein gutes Zeugnis die abschließende Dankes- und Wunschformel nicht fehlen. Es sei hiermit nochmals zur Kenntnis gegeben, dass auf eine solche abschließende Formel ein Arbeitnehmer grundsätzlich keinen Anspruch hat - Ausnahme siehe die Ausführungen im vorliegenden Beitrag und sonstige Fälle einer sogenannten "Selbstbindung".BindungswirkungIn dem vom BAG mit Urteil vom 6. Juni 2023 entschiedenen Fall hatte die Arbeitgeberin in der ersten und zweiten Zeugnisfassung das Arbeitszeugnis mit der oben zitierten Dankes- und Wunschformel abgeschlossen. Offensichtlich waren für die Arbeitgeberin die mehrfachen Nachbesserungswünsche der Arbeitnehmerin nicht nachvollziehbar, sodass in der dritten Zeugnisfassung die Schlussformel weggelassen wurde. Das BAG sah in dieser Weglassung einen Verstoß der Arbeitgeberin gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB. Nach dieser Bestimmung darf der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder einer Maßnahme nicht deshalb benachteiligen, "weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt." Eine Benachteiligung im Sinne des § 612a BGB liegt gemäß BAG vor, wenn sich die Situation des Arbeitnehmers nach einer Maßnahme durch den Arbeitgeber im Verhältnis zu einer zuvor bestehenden Situation verschlechtert hat. Nachdem ein Arbeitszeugnis mit Schlussformel einen höheren Stellenwert hat als ein Arbeitszeugnis ohne Schlussformel, ergab sich in diesem Sinne mit der dritten Zeugnisfassung eine Benachteiligung der Arbeitnehmerin im Abgleich zu den vorangehenden Zeugnisfassungen. Um den Vorteil der Schlussformel nicht zu verlieren, hätte nämlich die Arbeitnehmerin auf die aus ihrer Sicht gerechtfertigte Nachbesserung des Zeugnisses in der dritten Zeugnisfassung verzichten müssen. In der Folge sah das BAG damit unter Beachtung des Maßregelungsverbots zulasten der Arbeitgeberin eine Bindungswirkung hinsichtlich der das Zeugnis abschließenden Dankes- und Wunschformel und urteilte entsprechend. Darüber hinaus kann der Arbeitgeber auch nach den Grundsätzen von Treu und Glauben an den Inhalt eines einmal erteilten Zeugnisses gebunden sein. Bereits die erste Fassung eines Zeugnistextes sollte deshalb wohlüberlegt sein.Rechtsanwalt Rainer Bopp kanzlei@raehaug-partner.de www.haug-partner.de

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