Verfassungsbeschwerden: Gerechtfertigter Abstand

Durch die länder- und bundesweit erlassenen Gesetze, Verordnungen, Allgemeinverfügungen und behördeninterne Richtlinien erfahren unsere grundgesetzlich geschützten Rechte eine Einschränkung, wie dies seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland noch nie vorgekommen ist. Dies ist eine Tatsache. Tatsache ist auch, dass es in der Vergangenheit noch nie einen auch nur ähnlichen Anlass gegeben hat, der zu vergleichbaren rigiden Maßnahmen hätte führen können. Tatsache ist ebenfalls, dass das Handeln unserer verantwortlichen Politiker und Parteien eine selten einmütige Zustimmung für die Einschränkungen erhalten hat. Es gilt schließlich das höchste aller Güter zu schützen: das Leben.Es gehen allerdings einigen Mitbürgern die eingeführten derzeitigen Beschränkungen der persönlichen Freiheiten zu weit mit dem Argument, auch weniger einschneidende Maßnahmen würden das gewünschte Ziel erreichen. Verfassungsgerichte wurden bereits mehrfach angerufen. In der Sache entschieden haben im Rahmen von eingereichten Eilanträgen zuletzt der bayerische Verfassungsgerichtshof (BayVerfGH ) am 26. März 2020 und das Bundesverfassungsgericht (BVerfGH) am 7. April 2020.Angriffsziel: Umfängliche AusgangsbeschränkungVon den Bundesländern wurden in gegenseitiger Abstimmung Verordnungen oder Allgemeinverfügungen erlassen, mit denen jedermann angehalten wird, die physischen und sozialen Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren. Wie jedermann weiß, ist - wo immer möglich - ein Mindestabstand zwischen zwei Personen von 1,5 Metern einzuhalten. Die Verordnungen/Verfügungen haben (mit geringfügigen Abweichungen) darüber hinaus übereinstimmend folgende Untersagungen bzw. Einschränkungen zum Inhalt:Untersagt werden:- Gastronomiebetriebe jeder Art, ausgenommen die Abgabe und Lieferung von mitnahmefähigen Speisen- der Besuch von Krankenhäusern sowie Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen - ausgenommen Geburts- und Kinderstationen für engste Angehörige sowie Palliativstationen und Hospize- der Besuch von vollstationären Pflegeeinrichtungen- der Besuch von Behinderteneinrichtungen- der Besuch von ambulant betreuten Wohngemeinschaften- der Besuch von Altenheimen und SeniorenresidenzenDas Verlassen der eigenen Wohnung ist nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt, wobei triftige Gründe insbesondere sind:- die Ausübung beruflicher Tätigkeiten- die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen- der Besuch bei Angehörigen helfender Berufe, soweit medizinisch dringend erforderlich (z. B. Psycho- und Physiotherapeuten)- Versorgungsgänge für die Gegenstände des täglichen Bedarfs (z. B. Lebensmittel, Getränke, Apotheken, Drogerien, Post, Bank, Tankstellen, Tierbedarf, etc., jedoch nicht: Friseur)- das Aufsuchen von Kfz-Werkstätten - schließlich muss die Betriebs- und insbesondere Verkehrssicherheit der Fahrzeuge gewährleistet sein; ein Wechsel von Winter- auf Sommerreifen sollte unter sicherheitsrelevanten Aspekten erlaubt sein- der Besuch bei Lebenspartnern- die Begleitung von unterstützungsbedürftigen Personen und Minderjährigen- die Versorgung von Tieren- Sport und Bewegung an der frischen Luft (Einschränkung: alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstands und ohne Gruppenbildung)Die Verordnungstexte sprechen von "insbesondere"-Gründen. Es sind somit auch außerhalb der Auflistungen weitere nicht benannte triftige Gründe denkbar. Die Ausgangsbeschränkungen sind durchgängig zeitlich befristet, können bei Bedarf allerdings unproblematisch verlängert werden. Die Einhaltung der Ausgangsbeschränkungen ist bei gegebenem Anlass von der Polizei durchzusetzen. Verstöße gegen die Regeln zur Ausgangsbeschränkung können mit Geldbußen bis zu 25.000 Euro geahndet werden. Aus vorstehender Auflistung ist zu ersehen, dass verfassungsrechtlich geschützte Freiheitsund Handlungsrechte in bedeutendem Umfang betroffen sind und die Anrufung von Verfassungsgerichten zur Überprüfung der Zulässigkeit durchaus nicht abwegig sein muss.Bayerischer VerfassungsgerichtshofMit einer sogenannten Popularklage machte der dortige Antragsteller im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzes (Aktenzeichen Vf.6-VII-20) geltend, die angegriffene Verordnung über eine vorläufige Ausgangsbeschränkung verletze die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, der persönlichen Freiheit, der Ehe und Familie, der Berufsfreiheit, der Versammlungsfreiheit und der Freizügigkeit. Es gäbe keine Ermächtigung für ein Verbot, bestimmte Verhaltens- und Bewegungsmuster zu unterlassen. Die Verordnung greife in unverhältnismäßiger Weise in die Freiheitsrechte der Bürger ein. Zwar - so der Bayerische Verfassungsgerichtshof - lägen teilweise bedeutende Grundrechtseingriffe vor, die eine Vielzahl von Personen beträfen, und die Eingriffe seien partiell auch irreversibel. Allerdings führe eine Abwägung der widerstreitenden Interessen nicht dazu, dass die Verordnung zur Ausgangsbeschränkung aufgehoben werden müsse. Der Verfassungsgerichtshof bezog sich hierbei insbesondere auf die Risikoeinschätzung des Robert-Koch-Instituts hinsichtlich einer sehr dynamischen und ernstzunehmenden Situation. Die von der Verordnung ausgesprochenen Beschränkungen der unmittelbaren sozialen Kontakte führe wahrscheinlich zu einer Verringerung von Neuinfektionen und damit der Verzögerung der Verbreitung des Virus und dies wiederum habe die Wahrscheinlichkeit von vermeidbaren Todesfällen zur Folge. Diese Wahrscheinlichkeit in der aktuellen Situation genügte dem Verfassungsgerichtshof, um den Antrag des Klägers zurückzuweisen.BundesverfassungsgerichtAngegriffen wurden in dem Eilverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zum Az. 1 BvR 755/20 die bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, die bayerische Verordnung über eine vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie sowie zwei coronabezogene Allgemeinverfügungen des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege. Zur Begründung wurde vom Kläger vorgetragen, dass die vorbezeichneten Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie seine grundrechtlich geschützten Freiheiten weitgehend verkürzten, weil er hiernach derzeit keine Partnerschaft anbahnen, mit anderen musizieren oder mit anderen nicht demonstrieren könne. Es würden reale Begegnungen weitgehend verboten. Würde das Bundesverfassungsgericht nicht im Sinne der vom Kläger beantragten einstweiligen Anordnung reagieren und würde eine spätere Verfassungsbeschwerde in einem Hauptsacheverfahren Erfolg haben, wären all die angegriffenen Einschränkungen mit ihren erheblichen und voraussichtlich teilweise auch irreversiblen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Folgen zu Unrecht verfügt und etwaige Verstöße gegen sie auch zu Unrecht geahndet worden.Die Entscheidungsbegründung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. April 2020 zum Eilantrag des Klägers ist eine kurze: Es ist eine Folgenabwägung vorzunehmen, die die Auswirkungen auf alle von den angegriffenen Regelungen Betroffenen zu berücksichtigen hat. Bei einer Aufhebung der beschränkenden Maßnahmen würde sich die Gefahr der Virusansteckung und der Erkrankung vieler Personen und hieraus folgend der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen erheblich erhöhen. Gegenüber den Gefahren für Leib und Leben - so das Bundesverfassungsgericht - wiegen die Einschränkungen der persönlichen Freiheit des Beschwerdeführers weniger schwer. Für den Beschwerdeführer ist es deshalb nicht unzumutbar, die von ihm geltend gemachten Interessen einstweilen und zeitlich befristet zurückzustellen. Wie das Bundesverfassungsgericht bereits in einer Entscheidung aus 1999 feststellte: "Denn das Leben stellt einen Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung dar" (BVerfGE 39,1, 42).Kurzfassung1. Durch die verschiedenen Gesetze, Verordnungen und Allgemeinverfügungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie werden in erheblichem Umfange grundrechtlich geschützte Freiheits- und Handlungsrechte eingeschränkt. Gegen diese Einschränkung wurde verschiedentlich Verfassungsbeschwerde erhoben.2. Mit Entscheidung vom 26. März 2020 wies der bayerische Verfassungsgerichtshof eine Popularklage gegen die bayerische Verordnung über die vorläufige Ausgangsbeschränkung im einstweiligen Rechtsschutz zurück. Die Grundrechtseinschränkungen sind nach den Darlegungen des Verfassungsgerichtshofs in der aktuellen Situation im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit von vermeidbaren Todesfällen durch eben die angegriffene Ausgangsbeschränkung hinnehmbar.3. Das Bundesverfassungsgericht wies gleichermaßen mit Entscheidung vom 7. April 2020 eine Verfassungsbeschwerde gegen die bayerische Verordnung über die vorläufige Ausgangsbeschränkung zurück. Auch für das Bundesverfassungsgericht wiegen die zeitlich befristeten Einschränkungen der persönlichen Freiheit weniger schwer als die Gefahr für Leib und Leben.KommentarDie Gesetze, Verordnungen und Verfügungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie betreffen jedermann und nahezu jeden Lebensbereich. So hatte das Verwaltungsgericht (VG) Minden über den Weiterbetrieb eines Hundesalons zu entscheiden, der aufgrund der nordrhein-westfälischen Coronaschutzverordnung auf behördliche Anordnung geschlossen wurde. Der Hundesalon durfte weiterbetrieben werden, weil nach der Meinung des Gerichts die dort ausgeübte Tätigkeit nicht unter eine in der Verordnung genannte verbotene Dienstleistung fällt. Demgegenüber musste ein Marktstand mit Keksformen und Seife den Betrieb einstellen, weil das Warenangebot vom VG Berlin nicht als gestatteter Handwerkerbedarf gesehen wurde. Ein Weinhändler durfte nach Entscheidung des VG Aachen seinen Betrieb weiterführen, da nach Ansicht der entscheidenden Richter Wein als Genussmittel im Sinne der einschlägigen Allgemeinverfügung als Lebensmittel zur Sicherstellung des täglichen Bedarfs zu verstehen ist. Das gleiche Gericht vertrat allerdings die gegenteilige Meinung für den Verkauf von Pralinen. Es bleibt zu hoffen, dass die restriktiven Einschränkungen möglichst bald enden können und vorstehende Entscheidungen in der Rückbetrachtung nur eine anekdotische Randbemerkung darstellen.Rechtsanwalt Rainer Bopp

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