Reparaturkosten: Integritätsspitze

Zwischen den Kfz-Versicherern findet ein harter Wettbewerb statt. Der Kampf um Marktanteile wird namentlich durch die Preisgestaltung bei den Versicherungsprämien geführt. Um die Schaden-Kosten-Quote unterhalb von 100 Prozent zu halten und Erträge zu generieren, werden bei der Regulierung von Unfallschäden vielfache Abzüge von Sachverständigengutachten oder Reparaturrechnungen vorgenommen, seien diese Abzüge gerechtfertigt oder auch nicht. Als Beispiele seien genannt Stundenverrechnungssätze, Verbringungskosten, Kosten der Beilackierung, Reinigungskosten, abweichende Einwertungen von Wiederbeschaffungswert, Minderwert oder Restwert.Um die Rechtfertigung von solchen Abzugspositionen werden regelmäßig Prozesse bis hin zum Bundesgerichtshof (BGH) geführt. In einem jüngst veröffentlichten Urteil des BGH vom 16.11.2021 (Az. VI ZR 100/20) ging es nun um die Frage, ob unter bestimmten Umständen die Kosten einer Fahrzeugreparatur bis zur 130-Prozent-Integritätsgrenze zu regulieren sind, selbst wenn ein Sachverständigengutachten einen Totalschaden mit Reparaturkosten außerhalb der 130-Prozent-Grenze ausweist.Der FallDer spätere Kläger erlitt einen unverschuldeten Verkehrsunfall und forderte von der Haftpflichtversicherung des vollumfänglich einstandspflichtigen Unfallgegners die Schadensregulierung. Der Kläger ließ zur Dokumentation des entstandenen Fahrzeugschadens ein Sachverständigengutachten anfertigen, welches voraussichtliche Reparaturkosten i.H.v. 7.148,84 Euro brutto auswies. Darüber hinaus beurteilte der Sachverständige den Wiederbeschaffungswert des Fahrzeugs mit 4.500,00 Euro brutto und den Restwert mit 1.210,00 Euro brutto. Nach vorstehendem Wiederbeschaffungswert errechnete sich die 130-Prozent-Integritätsgrenze für eine wirtschaftlich vertretbare Fahrzeugreparatur mit lediglich 5.850,00 Euro brutto (4.500,00 Euro x 130 %). Demgegenüber lagen die Reparaturkosten gemäß Gutachten i.H.v. 7.148,84 Euro brutto bei 159 Prozent des Wiederbeschaffungswerts und somit außerhalb der vom Unfallschädiger zu ersetzenden Reparaturkosten, es lag danach ein Totalschaden vor. Die Haftpflichtversicherung rechnete deshalb nach Wiederbeschaffungsaufwand (Wiederbeschaffungswert abzüglich Restwert) ab.Nachdem die Versicherung anhand einer Restwert-Online-Börse mit 1.420,00 Euro einen über das Gutachten hinausgehenden Wiederbeschaffungswert ermittelte, zahlte sie an den Kläger einen Betrag von 3.080,00 Euro aus. Der Kläger ließ allerdings sein Fahrzeug in einer Werkstatt unter Verwendung von Gebrauchtteilen zu einem Reparaturkostenbetrag von 5.695,49 Euro brutto instand setzen - somit knapp unterhalb der vorstehend berechneten 130-Prozent-Grenze von 5.850,00 Euro brutto - und nutzte das Fahrzeug nach der Reparatur für einen erheblichen Zeitraum weiter. Er verlangte von der Versicherung die Differenz zwischen dem Auszahlungsbetrag und den von ihm tatsächlich bezahlten Reparaturkosten. Die Versicherung verweigerte eine weitere Entschädigung, es kam zum Prozess durch alle Instanzen.Wirtschaftlichkeitsgebot und IntegritätsinteresseNach § 249 BGB hat der zum Schadensersatz Verpflichtete denjenigen Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Diese Zentralnorm zum Schadensersatz gebietet, dass ein Geschädigter nur einen wirtschaftlich angemessenen Betrag als Schadensersatz fordern kann. Bestehen mehrere Möglichkeiten des Schadensausgleichs, muss der Geschädigte die wirtschaftlich vernünftigste Variante wählen. Nach der Rechtsprechung des BGH steht einem Geschädigten in Abweichung vom vorstehenden Wirtschaftlichkeitsgebot ausnahmsweise ein Anspruch auf Ersatz des den Wiederbeschaffungswert des beschädigten Fahrzeugs um bis zu 30 Prozent übersteigenden Reparaturaufwands (Reparaturkosten zuzüglich eines etwaigen merkantilen Minderwerts) zu. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass beim Geschädigten ein besonderes "Integritätsinteresse" vorliegt. Von einem solchen Integritätsinteresse ist auszugehen, wenn der Geschädigte den Zustand des ihm vertrauten Fahrzeugs wie vor dem Unfall wiederherstellt, um es nach der Reparatur weiter zu nutzen. Von einer Wiederherstellung in diesem Sinne kann wiederum nur dann ausgegangen werden, wenn die Reparatur fachgerecht und in einem Umfang durchgeführt wird, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung im Gutachten gemacht hat.Urteil des BGH vom 16.11.2021Mit seinem neuen Urteil vom 16.11.2021 zur 130-Prozent-Integritätsgrenze entwickelte der BGH seine bisherige Rechtsprechung weiter. Unter Bezugnahme auf seine bisherige Urteilspraxis führt der BGH aus, dass die Angaben eines vom Geschädigten beauftragten Sachverständigen zur Höhe der voraussichtlich anfallenden Reparaturkosten nicht verbindlich den Geldbetrag bestimmen, den der Geschädigte als Schadensersatz beanspruchen kann. Vielmehr kann ein Geschädigter der Kostenschätzung des Sachverständigen entgegentreten und geltend machen, dass der vom Sachverständigen ermittelte Betrag den zur Herstellung objektiv erforderlichen Betrag nicht zutreffend wiedergibt.In der Folge entschied der BGH nun, dass sich in Fällen, in denen für die vollständige und fachgerechte Reparatur des Unfallfahrzeugs auch unter Verwendung von Gebrauchtteilen Kosten entstehen, die sich (unter Berücksichtigung eines merkantilen Minderwerts) auf 101 bis 130 Prozent des Wiederbeschaffungswerts belaufen, eine vollständige Schadensregulierung nicht verwehrt werden kann. Der BGH wörtlich: "Gelingt es dem Geschädigten entgegen der Einschätzung des von ihm beauftragten Sachverständigen zur Überzeugung des Gerichts die erforderliche Reparatur innerhalb der 130-Prozent-Grenze fachgerecht und in einem Umfang durchzuführen, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht hat, kann ihm die "Integritätsspitze" von 30 Prozent nicht versagt werden." In einem solchen Fall wird der ersatzfähige Betrag durch den tatsächlich entstandenen Reparaturaufwand und nicht durch die hiervon abweichende Einschätzung des privat beauftragten Sachverständigen bestimmt. Der Geschädigte kann dann den Ersatz der tatsächlich angefallenen Reparaturkosten und des merkantilen Minderwerts verlangen.AusblickDas Urteil des BGH vom 16.11.2021 ist allerdings kein Grund für die Annahme, Kostenschätzungen eines Sachverständigen könnten durch einen Geschädigten mittels "kreativer" Gestaltung von Reparaturkosten und diesbezüglicher Einhaltung der 130-Prozent-Grenze regelmäßig umgangen werden. Für die Frage der vollständigen und fachgerechten Reparatur und die weitere Nutzung des Fahrzeugs nach der Reparatur ist nämlich der Geschädigte vollumfänglich beweisbelastet. Diesen Beweis sah der BGH im Hinblick auf die beiden Urteile der ersten und zweiten Instanz als nicht nachvollziehbar geführt. Der BGH verwies deshalb den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück. In Fällen der vorliegenden Art wird es für den Geschädigten erforderlich sein, konkrete Reparaturwege unter Angabe von Reparaturschritten und Angabe der tatsächlich vorgenommenen Arbeiten darzulegen. Eine nachvollziehbare Dokumentation sollte vorgehalten werden. Weitere Rechtsstreitigkeiten bei Schadensregulierungen in der "Integritätsspitze" scheinen vorgezeichnet zu sein.Kurzfassung1. Bei einer Unfallregulierung gilt das Wirtschaftlichkeitsgebot gemäß § 249 BGB. Hiernach kann ein Geschädigter nur einen wirtschaftlich angemessenen Betrag als Schadensersatz fordern. Bestehen mehrere Möglichkeiten der Schadensregulierung, muss der Geschädigte die wirtschaftlich vernünftigste Variante wählen.2. Vom Wirtschaftlichkeitsgebot kann abgewichen werden, wenn beim Geschädigten ein besonderes Integritätsinteresse vorliegt. Hierfür muss der Geschädigte das Fahrzeug vollständig und fachgerecht wie vor dem Unfall wieder herstellen, um es danach weiter zu nutzen. Bei Vorliegen eines Integritätsinteresses hat der Geschädigte Anspruch auf Ersatz des den Wiederbeschaffungswert des Unfallfahrzeugs um bis zu 30 Prozent übersteigenden Reparaturaufwands.3. Nach dem Urteil des BGH vom 16.11.2021 kann ein Geschädigter der Reparaturkostenschätzung des Kfz-Sachverständigen entgegentreten und geltend machen, dass das Sachverständigengutachten den erforderlichen Reparaturkostenbetrag nicht zutreffend wiedergibt. Gelingt dem Geschädigten unter Verwendung von Gebrauchtteilen entgegen der Kostenschätzung des Sachverständigen die gutachtensgemäß vollständige und fachgerechte Reparatur, so hat der Geschädigte bis zur 130-Prozent-Grenze Anspruch auf den Ersatz der tatsächlich angefallenen Reparaturkosten.4. Im Hinblick auf die gutachtensgemäß vollständige und fachgerechte Reparatur und die weitere Nutzung des Fahrzeugs ist der Geschädigte vollumfänglich beweisbelastet (nachvollziehbare Dokumentation mit Belegen).KommentarEs ist durchaus nachvollziehbar, dass die KZ-Versicherungen Unfallregulierungen in der vom BGH benannten "Integritätsspitze" entgegentreten. Schließlich ist eine Schadensersatzleistung nach Reparaturaufwand unter Berücksichtigung der 130 %-Grenze um ein Erhebliches teurer als eine solche nach Wiederbeschaffungsaufwand. Pauschale Versicherungseinwendungen, wonach bei einer Schadensregulierung in der Integritätsspitze beispielsweise die Preisgestaltung von im Eigeninteresse handelnden Reparaturwerkstätten zu einer erheblichen Manipulationsgefahr durch versteckte Rabattgewährung führt - etwa durch eigenmächtige Bestimmung von Ersatzteilpreisen, Herunterrechnen von Arbeitszeiten und nicht auf der Rechnung ausgewiesenen Positionen -, sind in diesem Zusammenhang nicht beachtenswert. Es muss sich für den jeweils konkreten Einzelfall zeigen, ob einem Geschädigten der Nachweis einer vollständigen und fachgerechten Reparatur- gegebenenfalls auch unter Verwendung von gebrauchten Ersatzteilen - gelingt.Rechtsanwalt Rainer Bopp

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