Sammelklage: Lkw-Kartell

Mit Beschluss der europäischen Kommission vom 19. Juli 2016 (Sache AT.39824-Truck) wurden gegen eine ganze Anzahl von Lkw-Herstellern - Volvo, Renault, Daimler, Iveco, DAF, PACCAR - Geldbußen zwischen rund 500 Millionen Euro und rund einer Milliarde Euro wegen kartellrechtlicher Zuwiderhandlungen festgesetzt. Die Zuwiderhandlungen bestanden nach den Feststellungen der Europäischen Kommission in Absprachen über Preise und Bruttolistenpreiserhöhungen für Lkw im europäischen Wirtschaftsraum sowie in Absprachen über den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten für die Einführung von Emissionstechnologien für mittlere und schwere Lastwagen gemäß den Abgasnormen Euro 3 bis Euro 6. Die festgestellten Zuwiderhandlungen erstreckten sich über den gesamten Europäischen Wirtschaftsraum und bestanden vom 17. Januar 1997 bis zum 18. Januar 2011. In dieser Folge reichte 2018 das im Rechtsdienstleistungsregister eingetragene Inkassounternehmen Themis Schaden GmbH beim Landgericht (LG) Stuttgart gegen die Mercedes-Benz Group AG (vormals: Daimler AG) aus abgetretenem Recht von rund 350 Unternehmen eine Sammelklage auf Zahlung von rund 96 Millionen Euro ein. Mit Urteil vom 28. April 2022 (Az. 30 O 17/18) wurde vom LG Stuttgart die Klage erstinstanzlich abgewiesen.Keine "class action"Eine Massen- oder auch Sammelklage nach dem Vorbild der in den USA praktizierten "class action" ist in Deutschland unzulässig. Bei einer Massenklage nach amerikanischem Vorbild werden tatsächliche und rechtliche Fragen abschließend für eine definierte Gruppe ("class") geklärt. Dabei muss eine Einzelperson nicht an diesem Prozess beteiligt sein oder nicht einmal davon Kenntnis haben. Der finanzielle Druck auf einen (oder auch mehrere) Beklagte ist bei einer solchen Massenklage immens, sodass derartige Verfahren häufig mit einem Vergleich enden. Insbesondere amerikanische Großkanzleien nutzen das Gebilde der "class action" zur eigenen Ertragsmaximierung. Sammelklagen sind in Deutschland hingegen auf einige wenige ausdrückliche Spezialverfahren beschränkt. Zu nennen sind insbesondere das Kapitalanleger-Musterverfahren nach dem hierfür eigens erlassenen Gesetz sowie die seit Ende 2018 eingerichtete Musterfeststellungsklage, mit welcher Verbraucherschutzverbände in eigener Person die Möglichkeit haben, für (mindestens zehn) betroffene Verbraucher das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen feststellen zu lassen.Klage aus abgetretenem RechtNachdem gemäß deutschem Recht eine Sammelklage nach amerikanischem Muster nicht zulässig ist, mussten sämtliche Unternehmen, die für sich einen kartellrechtlichen Schadensersatzanspruch gegen die Mercedes-Benz Group AG reklamierten, entweder diesen eigenen (vermeintlichen oder auch echten) Anspruch an einen Prozessführer abtreten oder aber selbst und einzeln eine Klage einreichen. Die Themis Schaden GmbH stellte sich solchermaßen als Prozessführer zur Verfügung. Sie wurde im Oktober 2016 als Inkassounternehmen - gegebenenfalls ausdrücklich zur Führung des vorliegenden Gerichtsverfahrens (?) - gegründet und ins Handelsregister wie auch ins Rechtsdienstleistungsregister eingetragen und ist eine 100-prozentige Tochter von E.L.V.I.S = Europäischer Ladungs-Verbund internationaler Spediteure. Wie eingangs des vorliegenden Beitrags berichtete, schlossen sich rund 350 Unternehmen aus der Branche zusammen und traten per Vereinbarung die behaupteten eigenen Ansprüche an die Themis Schaden GmbH ab. Hinter der Themis Schaden GmbH steht wiederum ein Prozessfinanzierer. Solche Prozessfinanzierer übernehmen gegen eine Erfolgsbeteiligung die Verfahrenskosten, wenn sie gewisse Erfolgsaussichten sehen. Ein Prozessrisiko der rund 350 beteiligten Unternehmen in finanzieller Hinsicht bestand somit nicht. Nach Abtretung der Ansprüche war damit die Themis Schaden GmbH Inhaber von rund 350 individuellen konkreten und unterschiedlichen kartellrechtlichen Schadensersatzansprüchen gegen die Mercedes-Benz Group AG.Verstoß gegen das RechtsdienstleistungsgesetzMit Urteil vom 28. April 2022 wies das LG Stuttgart die Klage der Themis Schaden GmbH wegen Verstoßes gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) ab. Gemäß § 3 RDG ist die selbstständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen nur in dem Umfang zulässig, in welchem sie durch das RDG oder aufgrund anderer Gesetze erlaubt ist. Nach § 4 RDG dürfen Rechtsdienstleistungen, die unmittelbaren Einfluss auf die Erfüllung einer anderen Leistungspflicht haben können, dann nicht erbracht werden, wenn hierdurch die ordnungsgemäße Erbringung der Rechtsdienstleistung gefährdet wird. Anhand dieser gesetzlichen Vorgaben erachtete das LG Stuttgart die Abtretung der einzelnen individuellen Ansprüche der Branchenunternehmer an die Themis Schaden GmbH für nichtig, sodass dieser die Legitimation fehlte, aktiv den Schadensersatzprozess zu führen.Nicht erlaubte umfassende RechtsberatungDas LG Stuttgart urteilte, die Themis Schaden GmbH erbringe keine ihr erlaubte Inkassotätigkeit im Sinne des RDG, sondern führe vielmehr eine umfassende Rechtsberatung durch. Zwar sei es der Klägerin als registrierter Inkassodienstleisterin grundsätzlich nicht verwehrt, im Rahmen des außergerichtlichen Forderungseinzugs - auch begleitend zu einem Gerichtsverfahren - Rechtsberatung vorzunehmen. Diese müsse aber dergestalt im Hintergrund stehen, dass das Mandat noch als Inkassotätigkeit zu werten sei. Hiervon - so das LG - könne im vorliegenden Fall nicht ausgegangen werden. Vielmehr ergebe sich bereits aus der vagen und nicht näher beschränkten Auftragserteilung, dass von der Themis Schaden GmbH eine umfassende Betreuung der rechtlichen Interessen der abtretenden Unternehmen geschuldet sei. Die Themis Schaden GmbH habe selbstständig rechtlich Bewertungen treffen müssen, um konkrete Forderungen gegen die Beklagte Mercedes-Benz Group AG erheben zu können. Ihre Tätigkeit habe sich ganz offensichtlich jedenfalls im Kern auf eine gerichtliche Durchsetzung von Ansprüchen gerichtet. Dies weiche vom typischen Inkasso unzulässig ab.Möglicher InteressenkonfliktDarüber hinaus sah das LG Stuttgart die vorliegende massenhafte Anspruchsbündelung auf Seiten der Themis Schaden GmbH für geeignet an, deren Pflicht als Klägerin zur bestmöglichen Rechtsdurchsetzung gegenüber jedem einzelnen Unternehmen zu beeinträchtigen. Zur Begründung führte das LG aus, die Erfolgsaussichten der Ansprüche der verschiedenen Unternehmen würden sich unterscheiden. Beispielsweise seien einzelne Verträge zur Forderungsübertragung streitig. Streitpunkte, die aber nur einzelne Unternehmen beträfen, zögen den Rechtsstreit dagegen für alle insgesamt in die Länge. Auch bestehe aus der Abhängigkeit der im Grunde vermögenslosen Inkassodienstleisterin von der Prozessfinanzierung die konkrete Gefahr des Einflusses sachfremder Entscheidungskriterien (durch den Prozessfinanzierer) auf die Art und Weise der Rechtsdurchsetzung jedes einzelnen Anspruchs. Dies laufe den Interessen der einzelnen Unternehmen zuwider.Die Entscheidung des LG Stuttgart ist nicht rechtskräftig. Wir werden weiter berichten.Kurzfassung1. Eine Sammelklage nach amerikanischem Muster ist nach deutschem Recht nicht zulässig. Ein als Rechtsdienstleister zugelassenes Inkassounternehmen kann sich allerdings nach deutschem Recht von einer Vielzahl von Betroffenen deren Ansprüche abtreten lassen und nachfolgend als Prozessführer diese abgetretenen Ansprüche vor Gericht verfolgen. Hierbei muss das Inkassounternehmen die vom Rechtsdienstleistungsgesetz vorgegebenen Grenzen beachten. Im vorliegenden Fall hatten rund 350 Unternehmen aus der Speditionsbranche ihre - tatsächlichen oder vermeintlichen - Schadensersatzansprüche an ein als Rechtsdienstleister zugelassenes Inkassounternehmen, die Themis Schaden GmbH, abgetreten.2. Mit Urteil vom 28. April 2022 wies das Landgericht Stuttgart den von der Themis Schaden GmbH gegen die Mercedes-Benz-Group AG geltend gemachten kartellrechtlichen Schadensersatzanspruch in Höhe von rund 96 Millionen Euro wegen Verstoßes gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz ab. Das Urteil ist nicht rechtskräftig3. Nach dem Urteil des Landgerichts Stuttgart weicht die Tätigkeit der Themis Schaden GmbH mit der gerichtlichen Geltendmachung von kartellrechtlichen Ansprüchen vom typischen Inkasso unzulässig ab, der Umfang der gemäß Rechtsdienstleistungsgesetz zulässigerweise zu erbringenden Rechtsdienstleistungen ist überschritten. Auch besteht wegen der Gefahr des Einflusses sachfremder Entscheidungskriterien durch den beteiligten Prozessfinanzierer ein möglicher und unzulässiger Interessenskonflikt.KommentarDas Landgericht Stuttgart wies erstinstanzlich auch in einem anderen Fall zum sogenannten "Rundholzkartell" die von einem Inkassounternehmen eingereichte Sammelklage wegen Verstoßes gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz ab (nicht rechtskräftiges Urteil vom 22. Januar 2022, Az. 30 O 176/19). Das Inkassounternehmen hatte sich von 96 Sägewerken jeweils kartellrechtliche Schadensersatzansprüche abtreten lassen und verklagte das Land Baden-Württemberg wegen kartellrechtswidriger Holzvermarktungspraxis auf einen Schadensersatz von rund 450 Millionen Euro. Auch in diesem Fall steht ein Prozessfinanzierer - ein börsennotierter US-amerikanischer Konzern - hinter dem Verfahren. Das prozessführende Inkassounternehmen wurde ausschließlich für diesen Zweck gegründet und ist Teil des US-Konzerns. Aus dem Urteil des Landgerichts Stuttgart ist zu entnehmen, dass das Inkassounternehmen von etwaigen Zahlungen des beklagten Landes zunächst die eigenen Kosten und Kostenrisiken in dreifacher Höhe erhält. Erst der verbleibende Restbetrag - so das Landgericht - werde zwischen der Klägerin und den Sägewerken prozentual aufgeteilt. Damit falle der Gewinn des Inkassounternehmens umso höher aus, je höher die Kosten der Rechtsverfolgung seien. Dieses Vergütungsmodell setze Anreize für eine kostenintensive Prozessführung zulasten der Sägewerke. Dies gefährde unzulässigerweise eine ordnungsgemäße Erbringung der Rechtsdienstleistungen. Erwarten uns zunehmend amerikanische Verhältnisse?Rechtsanwalt Rainer Bopp

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