Ausgabe 11/2007: Mobile Welt-Dimensionen

Interview mit Prof. Dr. Bernd Gottschalk, Präsident des Verbandes der Auto-mobilindustrie (VDA)Mobile Welt-DimensionenVon Prof. Hannes BrachatProf. Dr. Bernd Gottschalk tritt nach elfjähriger Tätigkeit als Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) ab. AUTOHAUS-Herausgeber Prof. Hannes Brachat reflektiert in einem Interview die Situation der deutschen Automobilhersteller, den Klimaschutz, die Technik der Zukunft, das Verhältnis Hersteller zu Handel, Verkehrspolitik und andere Fragen.AH: Herr Gottschalk, wie charakterisiert der scheidende VDA-Präsident gegenwärtig die Szenerie um die deutsche Automobilindustrie, im Inland, aber auch unter globalen Aspekten?B. Gottschalk: Technologisch muss die deutsche Automobilindustrie keinen Wettbewerber fürchten. Produktseitig hat sie vieles vorweggenommen, was die Märkte heute fordern. Das erklärt, warum sie weltweit Marktanteile gewinnt. Gegenwärtig baut sie ihre internationale Präsenz aus, zeichnet sich durch einen hohen Aufwand an Forschung und Entwicklung aus und verfügt dabei über ein Hersteller-/Zulieferverhältnis, das nicht ohne Spannungen, aber in der Summe unschlagbar ist.Was uns im Moment Sorgen macht, ist der deutsche Pkw-Markt: Verteuerung der Autonutzung und Attentismus. Wir müssen uns von der Betrachtung von Einzelmärkten lösen und uns auf größere Märkte wie Westeuropa, Asien, Südamerika oder Russland konzentrieren.Design und ProduktionAH: Wie sieht Ihre Einschätzung in Sachen Design, wie die Einschätzung der Effektivität der Produktion aus?B. Gottschalk: Die Wettbewerber aus Asien haben über Jahrzehnte in der Formgestaltung ihrer Produkte massive Anleihen bei der deutschen Automobilindustrie genommen. Das wandelt sich, aber noch immer bestimmen wir die designerischen Trends. Das größte Nachholpotenzial galt es in den Produktions- und Entwicklungsprozessen zu erschließen. Das wird über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg ein kontinuierliches Verbesserungsziel bleiben. Das Premiumsegment setzt hier ganz besondere Maßstäbe. Wir dürfen uns nicht nur mit denen vergleichen, die einfachere Produkte auflegen und damit leichter stabilere Prozesse erreichen. China und IndienAH: Wenn ein Hersteller wie Volkswagen 1984 als erster Hersteller auf dem chinesischen Markt einstieg und heute in Indien noch keine Präsenz zeigt, dann ergeben sich daraus einige Fragezeichen?B. Gottschalk: Primäres Ziel war die Sicherung der Position auf den etablierten Märkten. Das hat viel Management-Kraft und Cash-flow gebunden. Früh wurden Brasilien und andere aufstrebende Zukunftsmärkte entwickelt. Da mussten Prioritäten gesetzt werden. Nun sind die nächsten Schritte eingeleitet. In China sind wir bereits gut positioniert. Wir haben heute die Entscheidungen für Kaluga in Russland, für Maharashtra in Indien. Aber bei aller Zuversicht über die aufstrebenden BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) muss man das Potenzial auf den großen Märkten in Europa oder Nordamerika im Auge behalten.VerkaufsförderungshybrisAH: Auf dem Inlandsmarkt wird besonders viel Kraft investiert. Wann beschäftigt man sich grundsätzlich mit der Endlichkeit eines Marktes? Wenn man Monat für Monat die "Dopingaktionen" analysiert, dann ist das wirklich eine Frage der Sinnhaftigkeit?B. Gottschalk: Märkte sind nie endlich; aber im Radsport wie beim Autogeschäft ist Doping fatal. In bestimmten Marktsituationen kann der Einsatz gezielter Marketinginstrumente vertretbar sein. Eine dauerhafte "Einnahme" führt aber zu Abhängigkeiten, zum Realitätsverlust und zu nachhaltigen Schäden in der gesamten Wertschöpfungskette. Wir haben ein gutes Beispiel, dass es auch anders geht: das Nutzfahrzeuggeschäft. Mit guten Produkten, mit Disziplin, mit einer behutsameren Kapazitätspolitik und natürlich auch aufgrund der Marktbelebung wurde hier die Wende erreicht: Marge statt Menge. Heute sogar Marge und Menge! Wir stehen im Pkw-Sektor an einer kritischen Grenze, die mir erhebliche Sorgen macht. Für Hersteller, für den Handel, für alle Beteiligten, einschließlich der Zulieferer. Warum? Weil wir inzwischen gleich mehrstufig die Preiserosion erleben, im Neuwagengeschäft, bei Tageszulassungen zum Monatsende, bei den Leasingfahrzeugen, bis hin zu den Restwerten und beim Gebrauchtfahrzeug. Das ist eine Kettenwirkung, die wir wieder kontrollieren müssen. Wir reißen das Ruder nur herum, indem drei Dinge zusammenkommen: Verkäufer, die wieder mit Produktqualität statt Preisen argumentieren und den Kunden fest im Blick haben, statt den Wettbewerber bei Nachlässen zu übertrumpfen. Dann attraktive neue Produkte. Da kommt ja zur IAA noch einiges. Und ein hohes Maß an Disziplin bei den Kapazitäten. Klimadebatte und RücktrittAH: Über die Klimadebatte geriet die deutsche Automobilindustrie ins Kreuzverhör, was auch dazu führte, dass Ihre Aufgabe als VDA-Präsident ein unorganisches Finale genommen hat? B. Gottschalk: Man darf nicht alles glauben, was über die Ticker läuft. Jedenfalls ist der Zusammenhang zwischen Umweltfragen und der Aufgabe meines Amtes nach 11 erfolgreichen Jahren ein reichlich konstruierter, aber kein verlässlicher. Es gab keinen Druck. Richtig ist, dass der Klimaschutz eines der nachhaltigsten Themen für die internationale Automobilindustrie sein wird. Wir sehen, wie sich der Wind in Nordamerika dreht und plötzlich ein verändertes Bewusstsein da ist. Vor der chinesischen Regierung konnte ich mehrfach zeigen, wie wir die Energieeffizienz und die Emissionsreduzierung optimieren können, z. B. mit dem Diesel. Die sehr gute Umweltbilanz der deutschen Automobilindustrie wird jetzt noch einmal einen enormen Schub durch CO2-freundliche Techniken erhalten. Und damit wird eines passieren, das sage ich schon heute voraus: Wir werden auch künftig überproportionale Beiträge in der CO2-Reduzierung erbringen. Aber eines werden wir mit Mann und Maus verteidigen: das Premiumsegment. Wir werden es auch nicht auf dem Opferstein politischer Gleichmacherei und einheitlicher europäischer CO2-Obergrenzen schlachten lassen. Unsere internationalen Wettbewerber haben es bisher nie geschafft, ins Premiumsegment einzudringen, weil es das komplexeste überhaupt im Automobilgeschäft ist. Es kann aber nicht nur darum gehen, alles einseitig an CO2 auszurichten. Das Automobil ist Zehnkämpfer, von der Sicherheit, über Verbrauch, Recycling oder Emissionen bis zum Komfort oder dem Design. Die Vielfalt des Fächers muss – vom Kleinwagen bis zum Off-Roader und Sportcabrio – gewährleistet sein zu vertretbaren Kosten. All das macht die Aufgabe der Ingenieure künftig noch komplexer und schwieriger. Und das nicht nur national, sondern weltweit.EU-UmweltpolitikAH: Und welche Rolle spielt dabei die europäische Sichtweise?B. Gottschalk: Gerade derzeit spielt sich das Kernthema wieder auf zwei Ebenen ab. Einmal im Rahmen unseres europäischen Automobilverbandes, der, was ich respektvoll finde, gerade Toyota aufgenommen hat.AH: Weshalb? B. Gottschalk: Wir haben mehr Einigendes als Trennendes. Die Harmonisierung der globalen Reglementierungen lässt sich nur gemeinsam lösen. Es kann nicht sein, dass Asien andere Regulations hat als Nordamerika, und Nordamerika wieder andere als Europa. Die zweite Ebene ist die EU: Der Konsens, den die EU-Kommissare Verheugen und Dimas geschaffen haben, ist eine sinnvolle Richtschnur. Aber Richtschnur ist noch nicht Richtlinie!Automobile ZukunftstechnikAH: Und wohin bewegt sich die automobile Zukunftstechnik? Erdgas, Flüssiggas, Hybrid, Wasserstoff etc.? B. Gottschalk: Ich habe immer für eine Betrachtungsweise geworben, die allem eine Chance lässt, was die nachhaltige Mobilität sichert. Langfristig, ganz langfristig ist es Wasserstoff, der uns die Energie liefert. Ein weiter Weg. Bis dahin gibt es Übergangstechnologien. Fossile Kraftstoffe sind endlich. Deshalb muss man das volle Spektrum einsetzen, vom Erdgas über E85, die schrittweise Beimischung von Biokraftstoffen, dem systematischen Aufbau einer großindustriellen Infrastruktur für die zweite Generation von Biokraftstoffen wie BTL, dem Hybridantrieb bis hin zur Brennstoffzelle, nicht zu vergessen Otto oder Diesel, die noch lange nicht am Ende sind. Nur so schaffen wir eine größere Reichweite knapper und teurer werdender fossiler Energien.EU-VerkehrspolitikAH: Welche Weichenstellungen sind verkehrspolitisch dafür zu treffen? Auch innerhalb der EU?B. Gottschalk: Nachhaltigkeit muss keineswegs heißen, den Spaß an der Mobilität an der Garderobe abzugeben. Die Dynamik und Individualität des Autos ist sehr wohl mit der weiteren Reduzierung von CO2 vereinbar. In der Verkehrspolitik sind wir ebenfalls in einer Umbruchphase. Wir planen hier in Hessen gerade einen historischen Großversuch, bei dem wir neue Wege der kommunikativen Vernetzung der Fahrzeuge untereinander sowie mit der Infrastruktur beschreiten. Das heißt, Fahrzeuge "sprechen" miteinander, warnen einander. Sie halten sich zurück, wenn die Feuerwehr Vorfahrt braucht. Sie signalisieren, wenn hinter einer nicht einsehbaren Kuppe oder der nächsten Kurve ein Unfall geschah oder Glatteis herrscht. Das wird uns hoffentlich auch für die Zukunft eine weiter kontinuierliche Absenkung der Verkehrsunfallbilanz bringen. Das kann aber den sinnvollen gezielten Ausbau der Infrastruktur nicht ersetzen, wo die dritte Fahrspur auf Autobahnen fehlt, die Infrastruktur erodiert oder eine intelligente Verkehrsleitung fehlt. Ich plädiere für ein sinnvolles Miteinander der Verkehrsträger.Handel und HerstellerAH: Welches Verhältnis hat der scheidende VDA-Präsident zum Automobil-handel?B. Gottschalk: Ich beginne mit der Begeisterung für das Produkt, die beide haben. Der Handel lebt vom Produkt und er liebt das Produkt. Ich bin ein großer Verfechter des professionell betriebenen Autohauses, mit seinem umfassenden Angebot und all seinen Qualitäten, der Nähe zum Kunden, der Verkaufsleistung, dem Service oder den Dienstleistungspaketen. Ich weiß, dass wir mit der GVO 2002 manche Zerreißprobe hatten. Ich bin froh zu sehen, dass wir heute viele dieser Themen überwunden haben und die Hersteller deutlich artikulieren, wie sehr sie einen professionellen Handel wollen, ja brauchen. Natürlich führt auch das eine oder andere Direktgeschäft immer wieder zum Konfliktfall. Aber das ist keine gezielte Ausweitung zu Lasten des Handels. Ich glaube und hoffe, dass wir die nächste Runde der GVO dann mit größerer Gemeinsamkeit und Geschlossenheit angehen können. Die ersten GVO-Winde wehen ja schon durch die Geschäftsräume.Wirksamkeit im AmteAH: Sie waren der VDA-Präsident, der auf die längste Amtszeit zurückblicken kann. Worin bestand das Faszinosum Ihrer Aufgabe, auch hinsichtlich der Wirksamkeit?B. Gottschalk: Ich bin 25 Jahre aktiv in der Automobilindustrie tätig gewesen, und weitere 11 Jahre an der Spitze des VDA. Das Verbindende an beidem waren immer die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit des Produktes, die Menschen und die Gestaltung der Globalisierung. Ein Verband, der sich als moderner Dienstleistungsbetrieb versteht, dies mit nationaler und internationaler Prägung, der die Unternehmen mit ihren Technologien und Produkten begleitet, der die Kunden im Auge hat, die Politik, natürlich auch die Medien – einfach diese Vielfalt der Facetten, das ist eine großartige Aufgabe. Ich kann mir zwar vorstellen, nicht mehr VDA-Präsident zu sein. Ich kann mir aber nicht vorstellen, gar nichts mehr mit dieser faszinierenden Industrie zu tun zu haben. Deshalb steht für mich fest, dass ich mich auf diesen automobilen Feldern weiterhin betätigen werde.AH: Sie haben die Amtsführung im VDA politisch erheblich geweitet, drei Bundeskanzler aus nächster Nähe erfahren, auch als Vizepräsident im BDI an diversen Schaltstellen der Industrie gewirkt. Welches Verhältnis entstand daraus zur Politik? B. Gottschalk: Ich habe – das darf ich dankbar sagen, und zwar an alle Parteien –, unendlich weit geöffnete Türen gehabt. Das habe ich auf die grundsätzliche Bedeutung der Industrie als Schlüsselbranche zurückgeführt, an der jeder 7. Job hängt. Ich habe gespürt, dass die Politik verstanden hat, dass ich aus einem Industrieunternehmen komme, die Prozesse verstehe, Produktkenntnis und ein breites Netzwerk habe. Genauso wichtig ist es zu verstehen, wie Politik funktioniert. Beides zusammen schafft Glaubwürdigkeit und gegenseitiges Vertrauen. Mein Motto war immer: Wenn wir uns am niedrigsten gemeinsamen Level ausrichten, dann werden wir nie die Glaubwürdigkeit der Politik oder der Kunden gewinnen. Deswegen muten wir uns lieber etwas mehr zu. Das muss aber auch für die Politik gelten. Dafür muss man kämpfen. Dabei darf man keine weichen Knie kriegen. Man braucht Rückgrat. Ich habe im Dialog mit der Politik immer wieder gespürt, dass dieser Rückhalt da ist. Dafür bin ich sehr dankbar.AH: Herr Gottschalk, vielen Dank für das Gespräch.

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