Automobilvertrieb 2030: Tiefgreifende Veränderungen

Aufgrund der zu erwartenden hohen Veränderungsdynamik basieren die Zukunftsszenarien für den Automobilvertrieb 2030 nicht auf einer Fortschreibung der in AUTOHAUS 16/2019 aufgezeigten Veränderungstreiber. Vielmehr fließen die Ergebnisse von 16 Top-Level-Interviews mit Vertretern von Automobilherstellern und -händlern, von Wissenschaftlern und Vertriebsspezialisten sowie von Mobilitätsdienstleistern und neuen Akteuren in die Szenariobildung ein. Im Mittelpunkt der Experten-Interviews stehen die jeweiligen Veränderungstreiber für die Strukturen im Automobilvertrieb 2030 und deren jeweiligen Auswirkungen auf Vertriebsakteure und -funktionen. Eine Clusteranalyse reduziert die rechnerisch möglichen 209.952 Szenarien auf drei inhaltlich konsistente Zukunftsbilder: - Trendszenario mit Fortschreibung des Status quo - Evolutionäres Szenario mit Herstellerdominanz - Revolutionäres Szenario mit Herstellerdominanz Keines der ermittelten Szenarien lässt den Schluss zu, dass die Retail-Ebene an Bedeutung hinzugewinnen wird. Trendszenario mit Fortschreibung des Status quo Die inhaltliche Ausgestaltung bewegt sich eng an der heutigen Situation im automobilen Vertriebssystem. In diesem Szenario stellt der stationäre bzw. physische Customer Touch Point weiterhin einen festen Bestandteil innerhalb der Customer Journey dar. Sowohl in der Kaufentscheidungs- als auch in der Nachkaufphase stärkt der ansteigende Beratungsbedarf durch Car-IT-Elemente die Bedeutung des persönlichen Kundenkontakts. Um das notwendige, flächendeckende Dienstleistungsnetz anbieten zu können, bleibt im Trendszenario die Anzahl der Händlerbetriebsstätten auf einem vergleichbaren Niveau wie heute. Das Geschäftsmodell eines Vertragshändlers als Komplettbetrieb prägt auch künftig die Vertriebsstrukturen. Innerhalb der Zusammenarbeit zwischen den Vertriebsstufen wird intensiv auf die Kooperation zwischen Hersteller- und Handelsebene gesetzt, was nicht zuletzt als Lösungsansatz dienen dürfte, neuen Wettbewerbern den Zugang zum Vertriebssystem zu verschließen. So sind die eingesetzten Vertriebspartner weiterhin vertraglich an den Automobilhersteller gebunden. Die Einbindung der Handelsebene und die Möglichkeit des Zugriffs der Vertragshändler auf die Datenbanken stärkt die Position der Händler im System und ist als Commitment des Automobilherstellers zum mehrstufigen Vertriebssystem aufzufassen. Evolutionäres Szenario mit Herstellerdominanz Das zweite Szenario ist inhaltlich zwischen dem Szenario Nr. 1 und dem Szenario Nr. 3 einzuordnen und wird daher als evolutionäres Szenario mit Herstellerdominanz bezeichnet. Innerhalb dieses Szenarios werden die sich in den vergangenen Jahren abzeichnenden Entwicklungen im automobilen Vertriebssystem fortgeschrieben. Aufgrund eines intensiveren Einsatzes von digitalen Informations- und Kommunikationsinstrumenten wird die physische Kundenberatung in zahlreichen Situationen substituiert. Plausibilisiert wird der intensivere Einsatz von digitalen Instrumenten der Kundeninteraktion auch durch den höheren Absatzanteil des Online-Kanals, der zur Reduzierung der Autohaus-Betriebsstätten beitragen dürfte. Anzumerken ist, dass die verbleibenden Händlerbetriebsstätten am heutigen Produkt- und Dienstleistungsspektrum festhalten werden. Als weiteres maßgebliches Unterscheidungskriterium zu Szenario Nr. 1 ist die deutliche Machtdominanz des Automobilherstellers zu nennen. Revolutionäres Szenario mit Herstellerdominanz Das Szenario Nr. 3 zeigt inhaltlich die stärksten Veränderungen gegenüber der heutigen Situation im Automobilvertrieb. Zusammengefasst sind diejenigen Elemente, die bereits im Szenario 2 die Bedeutung des Automobilherstellers im System stärken, im Szenario Nr. 3 noch deutlicher ausgeprägt. Dies ist mit einem entsprechenden Bedeutungsverlust der Händler verbunden. Das Szenario zeichnet ein Zukunftsbild, in dem die Vertriebsakteure weniger als einmal vor Vertragsabschluss mit dem Kunden in einen persönlichen Kontakt treten. Die geringe Kundenfrequenz in den stationären Autohäusern wird die Verantwortlichen auf Hersteller- und Handelsebene zu entsprechenden Anpassungen in den Vertriebsnetzen zwingen. Zusätzlich wird der Online-Kanal mit einem Anteil von rund 30 Prozent die Position eines absatzstarken Vertriebskanals einnehmen. Der wohl größte Unterschied zu den Szenarien Nr. 1 und Nr. 2 ergibt sich durch die Abkehr vom Vertragshändlersystem. Den Untersuchungsergebnissen zufolge setzen die Hersteller dann innerhalb ihres Absatzkanals verstärkt Logistik- und Servicedienstleister ein. Revolutionäres Szenario mit höchster Eintrittswahrscheinlichkeit Die Bewertungen zur Eintrittswahrscheinlichkeit und zu den Auswirkungen auf die Vertriebsakteure basiert auf den Ergebnissen einer schriftlichen Expertenbefragung mit Vertretern von Automobilherstellern, -händlern und Vertriebsspezialisten. Alle drei Gruppen sind sich weitestgehend darüber einig, dass das revolutionäre Szenario mit Herstellerdominanz die größte Eintrittswahrscheinlichkeit aufweist. Auswirkungen für Vertragshändler Die Auswirkungen bei Eintritt der Zukunftsszenarien zeigen zwischen den Captive- und den Non-Captive-Akteuren deutliche Unterschiede. Je weiter sich die Cluster inhaltlich von der aktuellen Situation entfernen, umso positiver fallen die Einschätzungen zur Bedeutung der Non-Captive-Akteure aus. Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass Automobilhersteller und herstellergebundene Finanzund Mobilitätsdienstleister in allen drei berücksichtigten Szenarien an Bedeutung gewinnen werden. Während Non-Captive-Akteure von den in den Clustern skizzierten Veränderungen durchgehend nicht profitieren können, müssen auch die Vertragshändler mit zunehmender Veränderung zur heutigen Situation Abstriche hinnehmen. Kurzfassung Keines der auf Basis von Experten-Interviews ermittelten Szenarien lässt den Schluss zu, dass die Retail-Ebene an Bedeutung hinzugewinnen könnte. Die größte Eintrittswahrscheinlichkeit hat das "revolutionäre Szenario mit Herstellerdominanz". In diesem führen ein starker Online-Vertrieb und geringe Kundenfrequenz in den Autohäusern zu Anpassungen in den Vertriebsnetzen und zu neuen Formen der Zusammenarbeit zwischen Hersteller und Händler. So entstanden die 3 Szenarien Die Szenarien basieren auf einem strukturierten Verfahren mit empirischer Datenbasis. So wurden sie modelliert:1. Experteninterviews: Identifikation der Veränderungstreiber für den Automobilvertrieb 20302. Verdichtung und Selektion: Verdichtung der Ergebnisse auf 13 Veränderungstreiber mit bis zu vier Ausprägungen3. Inhaltliche Konsistenz: Prüfung der inhaltlichen Konsistenz eines gemeinsamen Eintretens der Ausprägungen durch Experten.4. Drei Zukunftsszenarien: Nach Ausschluss von Störfaktoren werden mittels Clusteranalyse und 16 Millionen Rechenoperationen drei inhaltlich konsistente Zukunftsszenarien entwickelt.5. Eintrittswahrscheinlichkeit und Auswirkungsanalyse: Bewertung anhand einer schriftlichen Expertenbefragung mit Vertretern von Herstellern, Händlern und Vertriebsspezialisten.

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