Anstehende EuGH-Entscheidung: Urlaubsanspruch bei Langzeiterkrankung

Das Urlaubsrecht befindet sich seit Jahren in ständigem Wandel. Dies gilt namentlich im Hinblick auf die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), der die alleinige Rechtsprechungskompetenz bezüglich der "Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung" hat. Nach Art. 7 dieser Richtlinie treffen die EU-Mitgliedstaaten "die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindesturlaub von 4 Wochen" erhält. Im Abgleich zur EU-Arbeitszeitrichtlinie urteilte der EuGH bereits mehrfach, dass Bestimmungen des deutschen Bundesurlaubsgesetzes (BUrlG) nicht mehr anzuwenden sind. Wegen eines möglichen Verfalls von Urlaubsansprüchen steht bei einem Zusammentreffen von Langzeiterkrankung und unterlassenem Arbeitgeberhinweis auf zu nehmenden Urlaub eine neue Entscheidung des EuGH an.Langandauernde Erkrankung: Urlaubsverfall erst nach 15 MonatenEntsprechend der gesetzlichen Regelung des § 1 BUrlG hat jeder Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitnehmer im gesamten Urlaubsjahr arbeitsunfähig krank war. Des Weiteren bestimmt § 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG, dass der Urlaub verfällt, wenn er nicht im laufenden Kalenderjahr oder im Falle einer Urlaubsübertragung aufgrund dringender betrieblicher oder persönlicher Gründe bis Ende März des darauf folgenden Jahres "gewährt und genommen" wird. Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 22. November 2011 (Aktenzeichen C-214/10) allerdings festgestellt, dass der Übertragungszeitraum von lediglich drei Monaten bis März des Folgejahres der europäischen Richtlinie zur Arbeitszeitgestaltung entgegensteht. Zwar entspreche ein Arbeitnehmerrecht auf ein unbegrenztes Ansammeln von Urlaubsansprüchen, die aus Zeiträumen einer andauernden Arbeitsunfähigkeit erworben wurden, nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub; es dürfe - so der EuGH - eine gewisse zeitliche Grenze nicht überschritten werden. Nationales Recht könne daher Übertragungszeiträume vorsehen, an deren Ende auch bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit der Urlaubsanspruch entfalle. Allerdings müsse jeder Übertragungszeitraum so gestaltet sein, dass ein Arbeitnehmer über Erholungszeiträume verfügt, die längerfristig gestaffelt und geplant werden wie auch verfügbar sein können. Mit dieser Begründung entschied der EuGH, dass ein Übertragungszeitraum von 15 Monaten nicht zu beanstanden ist. Mit Urteil vom 7. August 2012 (Az. 9 AZR 353/10) setzte das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Festlegung des EuGH um. Es gilt seitdem entgegen den Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes bei Langzeiterkrankungen ein Übertragungszeitraum von 15 Monaten. Urlaub verfällt bei einer Langzeiterkrankung also erst zum Ende März des auf das Urlaubsjahr folgenden übernächsten Jahres.Vor Urlaubsverfall: Hinweispflichten des ArbeitgebersNach § 7 Abs. 1 S. 1 BUrlG ist es dem Arbeitgeber vorbehalten, die zeitliche Lage des Urlaubs unter Berücksichtigung der Urlaubswünsche des Arbeitnehmers festzulegen. § 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG regelt den Verfall von Urlaub (siehe vorstehend). Anhand der Vorschriften des BUrlG war es gemäß der jahrelangen gefestigten Rechtsprechung des BAG die alleinige Sache des Arbeitnehmers, auf seinen Urlaub zu achten, rechtzeitig einen Urlaubsantrag zu stellen und Urlaub zu nehmen. In seiner Entscheidung vom 6. November 2018 (Aktenzeichen C-684/16) legte der EuGH allerdings fest, dass das BUrlG auch in dieser Hinsicht der europäischen Richtlinie zur Arbeitszeitgestaltung und der Charta der EU-Grundrechte entgegensteht und deshalb nicht mehr anzuwenden ist. Anhand der europäischen Bestimmungen - so der EuGH - obliegt dem Arbeitgeber die "Initiativlast" für die Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Der Arbeitgeber hat "konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen", dass der Arbeitnehmer - gegebenenfalls förmlich - aufzufordern ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. In der Folge dieser EuGH-Entscheidung änderte das BAG seine Rechtsprechung. Im Urteil vom 19. Februar 2019 (Az. 9 AZR 541/15) legte das BAG fest, dass in "richtlinienkonforme Auslegung" des § 7 BUrlG der Verfall nur dann eintreten kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor ordnungsgemäß aufgefordert hat, den Urlaub zu nehmen. Für eine solche ordnungsgemäße Aufforderung bedarf es nun eines klaren und rechtzeitigen Hinweises, dass der Urlaub andernfalls mit Ablauf des Urlaubsjahres oder des Übertragungszeitraums erlischt. Diese Hinweispflicht des Arbeitgebers wurde zwischenzeitlich durch mehrfache Urteile der Arbeitsgerichtsbarkeit konkretisiert.Dauererkrankung vs. HinweispflichtEs war nur eine Frage der Zeit, bis das Zusammentreffen einer Langzeiterkrankung mit einem unterlassenen Arbeitgeberhinweis auf offenstehenden Urlaub die Arbeitsgerichtsbarkeit beschäftigte. Im konkreten Fall erkrankte eine Arbeitnehmerin im Jahr 2017 und konnte den ihr zustehenden Urlaubsanspruch für das Jahr 2017 für 14 Tage nicht nehmen. Seit dem Jahr 2017 war die Arbeitnehmerin durchgehend erkrankt. Im November 2018 forderte die Arbeitnehmerin den Arbeitgeber zur Abgeltung des Urlaubs für das Jahr 2017 auf. Schließlich habe sie der Arbeitgeber nicht auf einen drohenden Verfall des Urlaubsanspruchs für 2017 hingewiesen. Der Arbeitgeber wies diesen Anspruch zurück. Mit Klage vom Dezember 2018 zum Arbeitsgericht Paderborn forderte die Arbeitnehmerin die Feststellung einer Urlaubsabgeltung von 14 Urlaubstagen aus 2017. Die Arbeitnehmerin unterlag in erster Instanz und erhob Berufung zum Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm.Entscheidung LAG HammSelbst unter Berücksichtigung der obenstehend zitierten EuGH-Rechtsprechung konnte das LAG keinen Anspruch der Arbeitnehmerin erkennen und wies die Berufung der Arbeitnehmerin mit Urteil vom 24. Juli 2019 (Az. 5 Sa 676/19) zurück. Zur Begründung führte das LAG aus, wegen der Langzeiterkrankung sei es dem Arbeitgeber gar nicht möglich, die Arbeitnehmerin in die Lage zu versetzen, ihren bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Denn die arbeitsunfähige Arbeitnehmerin könne auch bei einer förmlichen Aufforderung, den Jahresurlaub zu nehmen, diesen wegen der bestehenden Arbeitsunfähigkeit nicht antreten. Ein Hinweis des Arbeitgebers auf einen drohenden Urlaubsverfall ergebe somit nur dann Sinn, wenn der Arbeitnehmer überhaupt in der Lage sei, auf den Hinweis zu reagieren und den Urlaub tatsächlich zu nehmen. Dies aber ist im Falle einer durchgehenden Arbeitsunfähigkeit nicht der Fall. Nach der Entscheidung des LAG Hamm war der Urlaub spätestens mit Ablauf des 31. März 2019 erloschen.Vorabentscheidung EuGHDie Arbeitnehmerin ging in Revision und hatte insoweit Erfolg, als das BAG mit Beschluss vom 7. Juli 2020 (Az. 9 AZR 401/19) den EuGH um eine Vorabentscheidung ersuchte. Der EuGH hat nun über die Frage zu entscheiden, ob - und gegebenenfalls wann - der Urlaubsanspruch bei ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres auch dann erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben. Bis dahin besteht eine gewisse Rechtsunsicherheit. Den Arbeitgebern ist zu empfehlen, in jedem Fall Urlaubshinweise zu erteilen, auch wenn dies im Einzelfall nicht sinnvoll erscheinen mag.Kurzfassung1. Urlaub bei einer Langzeiterkrankung verfällt nicht innerhalb eines dreimonatigen Übertragungszeitraums, wie dies das Bundesurlaubsgesetz vorsieht. Unter Beachtung der europarechtlichen Bestimmungen ist hingegen ein Übertragungszeitraum von 15 Monaten nicht zu beanstanden. Urlaub verfällt bei einer Langzeiterkrankung damit erst zum Ende März des auf das Urlaubsjahr folgenden übernächsten Jahres.2. Der Verfall von Urlaubsansprüchen kann nur dann eintreten, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor konkret und transparent aufgefordert hat, den Urlaub zu nehmen. Der Arbeitnehmer ist darauf hinzuweisen, dass der Urlaub anderenfalls mit Ablauf des Urlaubsjahres oder des Übertragungszeitraums erlischt.3. Unterlässt der Arbeitgeber den Hinweis auf den Verfall von Urlaubsansprüchen allerdings während des Bestehens einer Langzeiterkrankung, führt dies nach der Entscheidung des LAG Hamm vom 24. Juli 2019 (Az. 5 SA 676/19) nicht zu einer Verlängerung des 15-monatigen Übertragungszeitraums.4. Wegen der vom LAG Hamm entschiedenen Rechtsfrage - Verfall von Urlaubsansprüchen bei unterlassenem Arbeitgeberhinweis während einer bestehenden Langzeiterkrankung - hat das BAG den EuGH um Vorabentscheidung ersucht. Eine diesbezügliche Entscheidung steht aus.KommentarZwischenzeitlich ist es durch die Rechtsprechung geklärt, dass der gesetzliche Urlaub eine Arbeitsschutzbestimmung darstellt und dem Arbeitgeber insoweit in der Diktion des BAG eine Mitwirkungsobliegenheit zukommt. Seine Mitwirkungsobliegenheit kann der Arbeitgeber nach den Ausführungen des BAG z. B. regelmäßig dadurch erfüllen, dass er dem Arbeitnehmer zu Beginn des Kalenderjahres in Textform mitteilt, wie viele Arbeitstage Urlaub ihm im Kalenderjahr zustehen, ihn auffordert, seinen Jahresurlaub so rechtzeitig zu beantragen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahres genommen werden kann, und ihn über die Konsequenzen klar belehrt, die eintreten, wenn er den Urlaub nicht entsprechend der Aufforderung beantragt. Eine klare Belehrung liegt durch einen Hinweis vor, dass der Urlaub grundsätzlich am Ende des Kalenderjahres verfällt, wenn der Arbeitnehmer einerseits in der Lage ist, seinen Urlaub im Kalenderjahr zu nehmen, er ihn andererseits aber nicht beantragt. Eine lediglich abstrakte Angabe im Arbeitsvertrag, einem Merkblatt oder einer Kollektivvereinbarung genügen gemäß BAG einer konkreten und transparenten Unterrichtung des Arbeitnehmers in der Regel nicht.Rechtsanwalt Rainer Bopp

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