Ausgabe 06/2011: Hat der Handel eine Zukunft?

Hat der Handel eine Zukunft?Gastbeitrag E-Mobilität E Wir befinden uns in einem Paradigmenwechsel: vom Fahrzeugkauf zur Mobilitätsdienstleistung. Treiber sind: die Kunden, technische Innovationen und gesellschaftliche Notwendigkeiten. Getriebene sind: die Hersteller, Captives und Handel. von Ernst WolfWir wollen hier weder über „das Ende des Ölzeitalters“ noch über notwendige oder nicht notwendige CO2-Reduktionen und auch nicht über „das Internet im Auto“ sprechen. Wir wollen uns hier darauf konzentrieren, über eCars und den damit verbundenen Systemwechsel in der Automobilwirtschaft zu reden, den wir als eMobility kennzeichnen. Dabei erlauben wir uns, Hybride zu ignorieren, da diese u. E. nur eine Zwischenlösung darstellen werden. Das ist doch übertrieben ...Eine Million eCars in 2020. Das sind doch gerade mal ein oder zwei Prozent aller Fahrzeuge auf unseren Straßen. 99% oder 98% der Fahrzeuge werden – wie seit 125 Jahren – von konventionellen Kraftstoffen angetrieben. Die in Deutschland bereits zugelassenen eCars kann man fast an einer Hand abzählen, was in Anbetracht der hohen Preise ja auch nicht verwundert. Und was heißt hier „Systemwechsel“, es ist für uns – die Automobilwirtschaft – doch gleichgültig, ob wir einen Benziner, einen Diesel oder ein eCar verkaufen, verleasen oder finanzieren.... oder doch nicht?Natürlich wird heute oder morgen kein Schalter umgelegt und dann fahren wir alle elektrisch. Aber: „Nichts ist so stark wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist“ (Victor Hugo). ECars finden in Deutschland bereits heute eine breite Akzeptanz: Für 54 Prozent der Menschen in Deutschland kommt der Kauf eines Elektroautos in den nächsten fünf Jahren in Frage, zeigte kürzlich eine Studie des TÜV Rheinland. Laut einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey wird bis Ende dieses Jahrzehnts jedes dritte weltweit verkaufte Fahrzeug ein eCar sein. Statt des von der Bundesregierung ausgegebenen Ziels gehen manche Experten von um die 4,5 Millionen Elektrofahrzeugen bis 2020 aus. Das wissen natürlich auch die Hersteller. Bis Ende 2013 werden die etablierten Hersteller um die 15 verschiedene Modelle im Portfolio haben. Renault plant bereits 10% seiner Zulassungen auf Basis eines elektrischen Antriebs, BMW gründet eine Submarke für eCars, Daimler entdeckt allein in „Car2go“ einen 100-Millionen-€-Markt; mal abgesehen vom politischen und gesellschaftlichen Druck auf die Automobilindustrie sowie dem Wunsch nach Innovationsführerschaft. Aber die hohen Preise? Nun, einerseits würden die Käufer laut der Universität Duisburg-Essen Preisaufschläge von 15 bis 31 Prozent hinnehmen, andererseits verspielen sich die hohen UPEs durch intelligente Finanzdienstleistungen in der Monatsrate. Wir denken: Es wird alles viel schneller gehen, als die Auguren meinen, und es wird deshalb Zeit für die Akteure, den Systemwechsel in Angriff zu nehmen und zum Wohle aller aktiv zu gestalten.Von der UPE zu TCOBeginnen wir mit der erstaunlichen Metamorphose der Automobilkäufer: weg von der UPE hin zu den „Total Costs of Ownership (TCO)“. Erst im zweiten Halbjahr 2006 haben die Autobanken damit begonnen, ihren Kunden Mobilitätspakete anzubieten, und schon 2009 resümierte Capgemini: „Serviceverträge werden sich zum Industriestandard entwickeln.“ Das CAR-Institut verifiziert diese Einschätzung. Im Juli 2010 waren drei Viertel der 85 im Markt befindlichen Autofinanzierungen All-inclusive-Offerten. Mitte 2009 lag diese Quote noch bei 50 Prozent. Flatrate-Angebote sind für den Kunden offenbar von hoher Attraktivität, denn für ihn spielt Mobilität zu kalkulierbaren Kosten nicht nur eine immer wichtigere, sondern fast schon die zentrale Rolle.Dies korrespondiert mit einem zweiten Trend: Das Interesse am Eigentum eines Autos sinkt – und zwar schnell und stark: 58 % der Haushalte in der Innenstadt von Paris besitzen bereits heute kein Auto mehr. In der City von London sind es 53 %, in Berlin 41 %. Und: Das Interesse am Auto in den hoch entwickelten Volkswirtschaften nimmt weltweit ab. Bei japanischen Studenten steht das Auto gerade noch auf Platz 17 (!) der persönlichen Wunschliste.Darauf richten sich die Hersteller ein. Mit unterschiedlicher Intensität, einige eher zögerlich, aber wer das Thema in den letzten Monaten verfolgt hat, stellt deren zunehmende Aktivität fest.Beispiel: BMW iSeit Februar wissen wir, dass ab 2013 in Leipzig (!) der BMW i3 und der BMW i8 vom Band rollen werden. Das ist, verglichen mit den Franzosen und den Japanern, zwar spät, aber besser spät als gar nicht. Was wir bemerkenswert finden: Integraler Bestandteil von BMW i wird ein zusätzliches Angebot von Mobilitätsdienstleistungen sein, die sogar unabhängig vom Fahrzeug selbst genutzt werden können. Dazu Ian Robertson, Mitglied des Vorstands der BMW AG für Vertrieb und Marketing: „Die Mobilitätsbedürfnisse in den schnell wachsenden Megacities verändern sich. Wir werden unser bestehendes Engagement bei fahrzeuggebundenen Dienstleistungen (...) mit BMW i deutlich erweitern.“ Cashcow CarsharingKann man mit der Priorität auf Mobilitätsdienstleistungen, in denen das Fahrzeug dann nur noch ein „vernetztes Endgerät“ darstellt, Geld verdienen? Ja, man kann! Sogar heute schon. Das zeigt ein Blick in die Bilanzen der Hersteller, und das weiß jeder, der sich im Markt ein wenig auskennt. Das zukünftige Ertragspotenzial aus Finanz- oder besser: Mobilitätsdienstleistungen ist noch nicht einmal angekratzt worden. Denn das Interesse der Kunden an automobilen Dienstleistungen wächst signifikant. Laut einer aktuellen Studie von puls Marktforschung (Autokäuferpuls Januar 2011) können sich 33 Prozent der Deutschen Carsharing vorstellen. Bei den Jüngeren bis 30 Jahren sind es sogar 43 Prozent. Dabei hat das Carsharing, das wir meinen, nichts mit den bisherigen, altbackenen und für den Nutzer unbequemen Angeboten zu tun. Wir subsumieren unter „Carsharing“ all die neuen Piloten, die auf Nutzen von Automobilen zielen, sei es Car2go von Daimler, Mu von Peugeot, BMW on Demand, Modelle wie Better Place etc.Zum Ertragspotenzial in Großstädten sagt Daimler-Finanzvorstand Bodo Uebber: „Vielleicht ist das dann durchaus einmal vergleichbar mit unseren Fahrzeugprogrammen.“ Eine, wie wir finden, bemerkenswerte Aussage. Daimler-Strategen sehen für Carsharing-Modelle ein weltweites Marktpotenzial von mehr als einer Milliarde Euro. Für Car2go halten Experten künftig einen Umsatz von mehr als 100 Millionen Euro für möglich. Und das ist ja erst der Anfang.„Um die notwendige Infrastruktur sicherzustellen, hat die Renault-Nissan Allianz bereits mit über 60 Regierungen, Städten, Energieunternehmen und anderen Organisationen Partnerschaften geschlossen“. (Achim Schaible, CEO Renault Deutschland)Die Rolle der Captives Dass die Captives in der Entwicklung der neuen Geschäftsmodelle für Mobilität eine Schlüsselrolle einnehmen könnten, ist leicht erklärbar. Die Captives haben in diesem Bereich eine Erfahrung und ein Know-how wie keine andere Branche. Sie haben gelernt, ausdifferenzierte und höchst komplexe automobile Dienstleistungen zu konzipieren, zu vertreiben und zu administrieren. Nicht zu unterschätzen auch: Die Captives wissen, wie man mit der Bürokratie umgeht, wie man die dafür notwendigen Kooperationen mit dem Hersteller, oft mehreren Sach- und Personenversicherern, dem Handel und vielen weiteren Dienstleistern führt. Sie wissen auch, dass in Anbetracht der relativen Marktsättigung und der politischen Rahmenbedingungen eine adäquate Positionierung im Bereich eMobility strategische Schwächen ausgleichen kann. Um nur ein Beispiel zu nennen: Viele der aktuellen und erwarteten neuen Mobilitätsdienstleistungen zählen zum „non-asset based business“, haben also keinen Einfluss auf ihr Eigenkapital. In Anbetracht von Basel III und weiteren Regulierungen ein gewichtiger Faktor. 7Folgerichtig kommt das IBM Institute for Business Value im November 2010 in der Studie „Advancing mobility – The new frontier of smarter transportation“ zu der Schlussfolgerung: „Eines der wesentlichen Ergebnisse ist, dass die Finanzierungsgesellschaften der Autohersteller eine Schlüsselrolle für das Angebot von Innovation-Mobilitätskonzepten einnehmen sollten.“ Und das tun sie. Für diese Studie wurden 115 Executives in 18 Ländern aus unterschiedlichen Industrien (u .a. 16 Executives von Captives) befragt.Unverkäuflich2011 plant Peugeot Deutschland, rund 800 E-Fahrzeuge abzusetzen, bis 2015 will Peugeot insgesamt 50.000 iOn produzieren. Obwohl das Auto unverkäuflich ist. Man kann es aber leasen! Das Angebot: monatlich 491 Euro netto ohne Anzahlung bei 48 Monaten Laufzeit und 10.000 km pro Jahr. Darin enthalten sind sämtliche Wartungskosten. Auf die Batterien gibt Peugeot fünf Jahre Garantie.Ähnliche Angebote haben – nicht nur in Deutschland – alle Hersteller von eCars aufgelegt oder bereits angekündigt. Allerdings sind die Akzente unterschiedlich gesetzt. Es wird auch in diesem Bereich noch getestet und probiert: Kauf oder Leasing oder Finanzierung bei den einen, nur Leasing „All inclusive“ bei den anderen. Und auch „All inclusive“ wird verschieden interpretiert: Mit Batterie vs. ohne Batterie, Kauf und Batterieleasing separat, mit Strom, ohne Strom etc.Was gegen Kaufangebote und für „Finanzangebote inkl. Fahrzeug“ spricht ist, dass bei Elektroautos mit der Batteriekapazität auch der Restwert sinkt – ein Risiko, das sich für den Endkunden nur schwer kalkulieren lässt und das die Automobilwirtschaft diesem deshalb nicht aufbürden sollte.„Black Box“ HandelDer Handel ist unruhig: Renditen im Keller, Neuwagenmarge gegen Null. Die letzte Bastion, das Werkstattgeschäft, wird von den HUKs dieser Welt sturmreif geschossen. Und der Kunde? Wenn er das Autohaus betritt, ist seine Wahl für Marke und Modell im Wesentlichen schon gefallen. Denn er hat sich im Vorwege bereits ausführlich auf den Webseiten der Hersteller und den Autoblogs und in Bewertungsportalen informiert. Was er vom Verkaufsberater dann noch wissen will, sind die monatlichen Kosten einer gesicherten Mobilität: Hereinnahmepreis Gebrauchtwagen, Finanzrate Neuwagen, Versicherungsprämie, Einschluss Garantieverlängerung usw. Es geht dem Kunden nicht mehr um die UPE, sondern um die TCO, die „Total Cost of Ownership“. Das aber kann der auf Fahrzeugverkauf, Fahrzeugtechnik und UPE geschulte Autoverkäufer kaum oder nur unzulänglich leisten. Die eCars werden diese Situation nicht verbessern. Eher im Gegenteil. „Für die Händler ist die Elektromobilität derzeit noch eine ‚Black Box‘“, sagte Renault-Händlerverbandspräsident Jürgen Schumacher im Januar auf Anfrage von AUTOHAUS Online. Zwar hörte man auf den Automobilkongressen des letzten Jahres vom Handel immer mal wieder die Forderung nach technischer und verkäuferischer Schulung für eCars, Renault z. B. hat die Händler zu einem Arbeitskreis eingeladen, aber generell ist der Handel – wenn überhaupt – erst ansatzweise in die Diskussion der Hersteller eingebunden.Sollte der Handel den hier skizzierten Paradigmenwechsel nicht ernsthaft und engagiert aufnehmen, wird er in der „Mobilitätsgesellschaft“ ein Nischendasein fristen. Dabei hat er doch eine Perspektive! Schließlich wird mit Mobilität Geld verdient. Auch im Handel. Warum gibt es noch keine TCO-Spezialisten, keine rundum gut ausgebildeten Mobilitätsberater? Nur so wird der Handel den neuen Entwicklungen und den neuen Wettbewerbern standhalten; den neuen Vertriebswegen, den neuen Beraterberufen, den Reisebüros und den Internetanwendungen mit Bezahlfunktion.Ein kleiner Trost zum SchlussSollten die hier skizzierten Entwicklungslinien auch nur halbwegs zutreffend sein, dann werden sich die Captives von ihrer bisherigen Leitlinie „Financial Services follows Automotive“ verabschieden können, um mutig den Paradigmenwechsel mit einer neuen Headline zu versehen: „Automotive follows Financial Services“!Den Lesern, die Benzin im Blut haben und die sich mit dem hier Gesagten gar nicht anfreunden können, sei ein Einstein-Zitat mit auf den Weg gegeben: „Prognosen sind immer schwierig – insbesondere, wenn sie die Zukunft betreffen“. zLesen SIe hier...... wie die „eMobility“ die Automobilwirtschaft gründlich verändern wird, wie sich Hersteller und Finanzdienstleister darauf einrichten und ob der klassische Automobilhandel noch eine Perspektive hat.KurzfassungDer Paradigmenwechsel – vom Fahrzeugkauf zur Mobilitätsdienstleistung – verändert dramatisch die Rolle aller Akteure in der Automobilwirtschaft.z Hersteller – vom OEM zum Zulieferer. Das Fahrzeug wird zukünftig nur noch ein Bestandteil einer umfassenden Mobilitätsdienstleistung sein. Ob es den Herstellern gelingt, die gesellschaftlichen Mobilitätsbedarfe zu dominieren, ist noch nicht entschieden. Klar aber ist, dass sich die Hersteller mit ungewohnten Wettbewerbern auseinandersetzen müssen: Versorger, Logistiker, Starts ups.z Finanzdienstleister – stark wachsende Bedeutung. Aus einfachen Finanzdienstleistungen werden komplexe Mobilitätsservices, die mit den aktuellen Mobilitätspaketen nur noch ihre Wurzel gemeinsam haben. Die Captives aber sind prädestiniert – unter Einbindung von Kooperationspartnern –, fein ausdifferenzierte und höchst komplexe Dienstleistungen zu konzipieren und zu administrieren.z Handel – „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Schon heute geht es beim Besuch im Autohaus nicht mehr nur um Marke und Modell, sondern wesentlich um die TCO der Mobilität des Kunden. Das aber kann der tradierte Handel nicht. Er wird deshalb in der „Mobilitätsgesellschaft“ ein Nischendasein fristen. Perspektive? TCO-Spezialist, Mobilitätsberater! Seine Wettbewerber sind neue Beraterberufe, vielleicht Reisebüros und sicherlich Internetanwendungen mit Bezahlfunktion.

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