Gedanklicher Ansatz für die Arbeit des AK IV war, dass ein Bußgeldverfahren "schnell gehen muss". Trotzdem habe der Betroffene Anspruch auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren. Daher sei es es nötig, Bußgeldanzeigen in vereinfachten Verfahren zu bearbeiten. So müsse nicht jedes Mal aufs Neue aufgeklärt werden, wie ein Messgerät funktioniert. Grundsätzlich genüge es, wenn das eingesetzte Gerät einmal gründlich untersucht und für die amtliche Verkehrsüberwachung zugelassen wurde. Trotz alledem müsse konkreten Einwänden des Betroffenen nachgegangen werden, da kein technisches System garantiert fehlerfrei arbeite. Dafür müssten dann aber auch alle relevanten Daten von Anfang an in der Akte sein.
Bisheriges Recht
Nach geltendem Recht soll die Staatsanwaltschaft ein Bußgeldverfahren vor Abgabe an das Gericht prüfen; in der Praxis werden durch diese Prüfung allerdings meistens keine neuen Erkenntnisse gewonnen, waren die Rechtsexperten im Goslar überzeugt. Erörtert werden sollte daher auch, ob zur Entlastung der Staatsanwaltschaften und zur Vereinfachung auf dieses sogenannte Zwischenverfahren verzichtet werden kann.
Das Gesetz regelt (bisher) detailliert, unter welchen Bedingungen ein Bußgeldurteil mit der Rechtsbeschwerde angegriffen werden kann. Ob dieser umfangreiche Kriterienkatalog heute noch sachgerecht ist oder der Korrektur bedarf, sollte ebenfalls auf dem 58. VGT mit abgeklärt werden.
Die Verjährungsfrage
Die Sachverhaltsermittlung nach Verkehrsverstößen sei "oft zeitkritisch". Nur wenn der Fahrer rechtzeitig ermittelt werde, können im bisherigen Bußgeldverfahren Tempo- oder Abstandsverstöße auch tatsächlich geahndet werden. Hier befasste sich der AK IV mit der Frage, ob die dreimonatige Verjährungsfrist künftig noch ausreicht und welche technischen Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung ggfs. vorstellbar wären. Auch über Schwerpunktgerichte sollte diskutiert werden.
Unter Leitung des Vorsitzenden Richters am Landgericht Aachen, Dr. Matthias Quarch, setzten sich insgesamt vier Referenten mit diesen Fragen und weiteren Reformansätzen zusammen mit den Teilnehmern des Arbeitskreises auseinander.
Die Auftaktforderungen von RA Janecek
Den Anfang machte der bekannte Dresdener Verkehrsrechtsanwalt Christian Janeczek: "Nichts bestimmt gegenwärtig die Diskussionen rund und um das Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren mehr, als das so genannte standardisierte Messverfahren. Trotz dieser Bedeutsamkeit lässt sich eine spezielle gesetzliche Regelung nicht finden", führte er aus. Der Begriff des standardisierten Messverfahrens beruhe "auf reinem Richterrecht und hier der Rechtssprechung des Bundesgerichtshofes aus den 90er Jahren".
Um Unsicherheiten und unterschiedliche Handhabungen im Umgang mit standardisierten Messverfahren zu vermeiden, sei eine gesetzliche Regelung unumgänglich. In einer solchen sei zu regeln, wann der Tatrichter von einem standardisierten Messverfahren ausgehen kann, wann konkrete Anhaltspunkte für ein Abweichen vom standardisierten Messverfahren gegeben sind, welche Rechtsfolgen diese haben und welche Rechte Betroffene in Anspruch nehmen können müssen, um standardisierte Messverfahren auch prüfen zu können.
Wenn OWI‘s empfindlicher ausfallen als in Strafverfahren...
Stehe fest, dass ein Betroffener eine Verkehrsordnungswidrigkeit begangen hat, ergäben sich die Rechtsfolgen im Wesentlichen aus dem Bußgeldkatalog. Nicht ausreichend betrachtet werde nach Ansicht von Janecek jedoch, ob Umstände in der Tat oder in der Person des Betroffenen ein Abweichen von den Rechtsfolgen zu seinen Gunsten ermöglichen: "Während im Strafverfahren den Beteiligten Möglichkeiten der Einstellung bei geringer Schuld mit oder ohne Auflage zur Verfügung stehen, sind die Rechtsfolgen bei Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren äußerst unflexibel. Angesichts der Rechtsfolgen von sich immer erhöhenden Bußgeldern, Eintragungen von Punkten in Flensburg und Fahrverboten, die für Betroffene empfindlicher sein können, als Strafen für Beschuldigte im Strafverfahren, scheint es mir notwendig zu sein, individueller Ordnungswidrigkeitenverfahren zu betrachten."
Wenn zudem beachtet werde, "welche Maßstäbe mittlerweile obergerichtliche Rechtsprechungen bei einem Absehen vom Fahrverbot vorsehen, erscheint es so, als würde der Tatrichter kaum noch ein tatrichterliches Ermessen besitzen. Hier muss zukünftig flexibler und unter Betrachtung des Einzelfalls reagiert werden können", so RA Janecek abschließend.
"Staatsanwaltschaften entlasten!"
Prof. Dr. Diethelm Klesczewski vom Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Leipzig, sagte anschließend unmissverständlich: "Die Praxistauglichkeit des Bußgeldverfahrens muss sich auch im Zwischenverfahren bewähren. Zwischen dem Normprogramm von § 69 Abs. 2 bis Abs. 4 OWiG und der Rechtswirklichkeit besteht eine fühlbar große Diskrepanz. Einerseits soll die Verwaltungsbehörde auf zulässigen Einspruch hin ihre Entscheidung gründlich überprüfen, während die Staatsanwaltschaft aufgerufen ist, die Akten erst dann an das Gericht weiterzuleiten, nachdem sie alle Gründe zur Einstellung ausgeschlossen und gegebenenfalls noch ergänzende Ermittlungen vorgenommen hat."
Andererseits findet die Verwaltungsbehörde nach Auffassung von Klesczewski "selten Anlass, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken". So gelange eine "Unzahl an straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldsachen" an die Staatsanwaltschaft. Aufgrund des Bagatellcharakters böten die Bußgeldangelegenheiten den Staatsanwälten allerdings "kaum Anhaltspunkte, ihrer eigentlichen Aufgaben, der Verfolgung von Straftaten, nachzugehen". Dementsprechend, so der Universitätsprofessor weiter, würdigten sie diese Sachen lediglich eines "pauschalen Blickes".
Eine Entbindung der Staatsanwaltschaft von der Beteiligung am Zwischenverfahren schaffe aber nur Abhilfe, wenn das Verfahren dadurch nicht auf Kosten der Rechtskraftfähigkeit der gerichtlichen Entscheidung vereinfacht werde. Klesczewski schlug deshalb vor, der Verwaltungsbehörde "bei bestimmten, eng umgrenzten Verkehrsordnungswidrigkeiten die Aufgabe zu übertragen, die Sache vor Gericht zu vertreten und die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft auf die Untersuchung einer etwaigen Strafbarkeit des Betroffenen zu beschränken".
"Betroffener muss sich gegen Fehlurteil wehren können"
Dr. Benjamin Krenberger, Richter am AG Landstuhl, befasste sich als nächster Referent ebenfalls mit der Praxistauglichkeit des Bußgeldverfahrens. Diese ist nach seiner Überzeugung nicht nur an der Prozessökonomie zu bemessen, "sondern muss auch für Rechtssicherheit und ein hohes Maß an Gleichbehandlung der Betroffenen sorgen". Die vom BVerfG im Hinblick auf die Rechtsfolgen geforderte Gleichbehandlung von Verkehrsteilnehmern könne umgekehrt von diesen auch für die Rechtsanwendung gefordert werden. Insoweit sei gerade der Umgang mit Tatbeständen der Verjährungsunterbrechung reformbedürftig. Der Tatvorwurf müsse sich für den Betroffenen eindeutig aus Anhörungsbogen und Bußgeldbescheid ergeben. Ist dies nicht der Fall, bestehe ein "Verfahrenshindernis, das nicht durch Anwendung der Rechtsprechung zur Frage der Wirksamkeit des Bußgeldbescheides ausgehebelt werden darf".
Gleiches gilt laut Richter Krenberger für das "Ziel, in der Rechtsbeschwerdeinstanz jedenfalls im Hinblick auf Verfahrenshindernisse keine Ergebnisse mehr zu erlauben, die den Eindruck beim Betroffenen entstehen lassen, man sei erstinstanzlich einem klaren Fehlurteil aufgesessen, könnte sich dagegen aber nicht wehren". Verfahrenshindernisse sollten deshalb auch in der Zulassungsrechtsbeschwerde von Amts wegen zu prüfen sein und ggfs. zur Einstellung des Verfahrens durch das OLG führen können.
"Nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Tatgerichte wäre es schließlich hilfreich, wenn die Vielstimmigkeit der obergerichtlichen Entscheidungen sukzessive abnehmen würde, indem mehr Fälle dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt werden. Dies könnte durch eine dem § 70 FamFG ähnliche Regelung geschehen", so Krenberger abschließend.
"Wesentliche Verfahrensteile nicht auf Private übertragen!"
Dass der AK IV tatsächlich zu fundamentalen Reformen im Umgang mit Bußgeldverfahren kommen werde, wurde spätestens dann klar, als auch Timo Payer, Präsident des Bayerischen Polizeiverwaltungsamtes Straubing seine Sicht der Dinge darlegte. Er fasste seinen Vortrag sehr strukturiert in fünf Punkten zusammen und begann mit der Forderung, dass "typische Massenverfahren wie Geschwindigkeits- Abstands- oder Richtlichtmessungen nach bundesweit einheitlichen Mindeststandards bearbeitet werden müssen". Insbesondere dürfe der hoheitliche Charakter des Verfahrens nicht durch Übertragung von wesentlichen Verfahrensteilen auf Private unterlaufen werden.
Für die Bearbeitung der Akteneinsicht sollen nach Payers Ansicht mittelfristig auch die Möglichkeiten der Digitalisierung genutzt werden, jedoch dürfe dies nicht zu einer unnötigen Datenhaltung von für das Verfahren nicht erforderlichen Daten führen.
"Einzug von Führerscheinen mittelfristig abschaffen!"
Eine einheitliche Rechtsanwendung mit Rechtssicherheit für alle Beteiligten würde außerdem durch zentrale Zuständigkeiten der Bußgeldstellen und Amtsgerichte im Bereich der Vermögensabschöpfung geschaffen, so der Präsident des Bayerischen Polizeiverwaltungsamtes.
"Mittelfristig abgeschafft" werden könne indes die amtliche Führerscheinverwahrung, wenn man sie durch ein System ersetze, bei dem der Betroffene mitteilt, wann er nach Eintritt der Rechtskraft sein Fahrverbot ableisten will. Voraussetzung für diese Reform sei ein zentrales Fahrverbotsregister beim Kraftfahrtbundesamt, das durch alle Bußgeldstellen, Staatsanwaltschaften und Gerichte aktuell gehalten werden müsse. Wenn Kontrollbeamte dadurch "rund um die Uhr auf dieses Register zugreifen können". sei jederzeit eindeutig feststellbar, ob ein Fahrverbot noch bestehe oder es bereits abgeleistet worden ist.
Eindeutig auch Payers Schlussforderung: "Das Bußgeldverfahren sollte auf die wesentlichen Verfahrensstandards zurückgeführt werden. Beispielsweise kann die aufschiebende Bedingung in § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG, dass der Erlass des Bußgeldbescheides nur dann verjährungsunterbrechend ist, wenn dieser innerhalb von zwei Wochen zugestellt wird, ersatzlos gestrichen werden."
Die abschließende Resolution
Die zum Abschluss des Verkehrsgerichtstages vom gesamten Arbeitskreis gefasste Resolution (nachfolgend im Wortlaut) setzte erwartungsgemäß die von den Referenten vorgeschlagenen Reformen um:
1. Der Arbeitskreis empfiehlt mit überwältigender Mehrheit, die Anforderungen an das standardisierte Messverfahren sowie das umfassende Einsichtsrecht in alle Daten und Messunterlagen zu kodifizieren.
2. Die obligatorische Beteiligung der Staatsanwaltschaft im Zwischenverfahren soll abgeschafft werden.
3. Der Arbeitskreis empfiehlt die Einrichtung von Schwerpunktgerichten für Sonderbereiche wie z. B. Vermögensabschöpfung, Gefahrgut- oder Fahrpersonalrecht.
4. Bußgeldverfahren sollen gegen Auflagen eingestellt werden können.
5. Nach erfolgreicher Absolvierung einer verkehrstherapeutischen Nachschulung soll von einem Fahrverbot ganz oder teilweise abgesehen werden können.
6. Zur Vermeidung von Fehlurteilen soll die Rechtsbeschwerde wegen übersehener Verfahrenshindernisse generell zugelassen werden. Ein Verstoß gegen das faire Verfahren ist wie ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör zu würdigen. Außerdem sollen die Oberlandesgerichte Verfahren mit grundsätzlicher Bedeutung stets an den Bundesgerichtshof vorlegen können. Der Verfolgungsbehörde soll nur ein Rechtsmittel zustehen, wenn sie an der Hauptverhandlung teilgenommen hat.
7. Der Arbeitskreis regt an, beim Kraftfahrtbundesamt eine zentrale, tagesaktuell ge- führte Fahrverbotsdatei zu führen. (wkp)