Dieselskandal: Kein Ende der Verfahren in Sicht

KURZFASSUNG1. Der BGH hat seine Rechtsprechung geändert und folgt nunmehr dem EuGH, der aus den Vorschriften der EU-Typgenehmigung einen Schutzcharakter auch zu Gunsten der Fahrzeugkäufer ableitet. In der Konsequenz können unzulässige Abschalteinrichtungen bei Dieselmotoren Schadensersatzansprüche gegen den Hersteller begründen, auch wenn diesem kein vorsätzlich sittenwidriges Verhalten nachgewiesen werden kann.2. Aktuell hat der BGH drei Verfahren an die Berufungsinstanzen zurückverwiesen, insbesondere, um das Bestehen solcher Schadensersatzansprüche abzuklären. Dies mit strikten Vorgaben zur Verteilung der Darlegungslasten und zur Bestimmung des Schadensersatzes.3. Eine Rückgabe der Fahrzeuge an den Hersteller scheidet demnach aus. Die Kläger können lediglich einen Differenzschaden für einen verminderten Fahrzeugwert in Höhe von 5 bis 15 Prozent des Kaufpreises geltend machen. Die Höhe des Schadens kann innerhalb dieser Spanne vom Richter geschätzt werden, ohne dass es einer Beweisaufnahme bedarf.Der BGH hat aktuell am 26.6.2023 in drei verschiedenen Klageverfahren gegen VW, Audi und Mercedes die klageabweisenden Berufungsurteile aufgehoben und die Sachen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Berufungsgerichte zurückverwiesen, damit dort die Voraussetzungen einer Haftung der Fahrzeughersteller aus unerlaubter Handlung weiter aufgeklärt werden. Grundlage der Entscheidungen ist insbesondere die Berücksichtigung des aktuellen EuGH-Urteils vom 21.3.2023, wonach den Käufern von Fahrzeugen mit unzulässigen Abschalteinrichtungen nunmehr Schadensersatzansprüche gegen den Hersteller auch dann zustehen können, wenn kein Fall der vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung vorliegt. Der BGH ändert damit seine bisherige Rechtsprechung und setzt wie erwartet die Rechtsprechung des EuGH um, mit welcher den Vorschriften des EU-Typgenehmigungsverfahrens auch Schutzfunktion für die Käufer von Neu- und Gebrauchtfahrzeugen zugesprochen wird. Diese Schutzfunktion ermöglicht es den Fahrzeugkäufern, sich unmittelbar auf den Gesetzesverstoß zu berufen und nunmehr auch im Fall fahrlässigen Handelns des Herstellers Schadensersatz zu verlangen. Dabei muss der Hersteller das Fahrzeug allerdings nicht zurücknehmen, sondern dem Käufer lediglich einen Teil des Kaufpreises erstatten. Die Höhe des Schadens kann dabei im Einzelfall ohne Notwendigkeit einer Gutachtenerholung durch richterliche Schätzung festgelegt werden innerhalb einer vom BGH vorgegebenen Spanne zwischen 5 und 15 Prozent des Kaufpreises.Das Urteil des EuGHÜber das Urteil des EuGH vom 21.3.2023 -Az. C-100/21 hatten wir in AUTOHAUS 7-8/2023 bereits ausführlich berichtet. Bislang hatten die deutschen Gerichte - dem BGH folgend - Schadensersatzansprüche von Dieselkunden ganz überwiegend davon abhängig gemacht, dass dem Hersteller - wie im Fall der im EA 189-Motor von VW verbauten Prüfstanderkennung - vorsätzliches und sittenwidriges Handeln im Sinne von § 826 BGB nachgewiesen werden kann. "Einfache" deliktische Schadensersatzansprüche über § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit den Vorschriften des EU-Typgenehmigungsverfahrens wurden regelmäßig verneint, da nach bisheriger Betrachtung mit den verwaltungsrechtlichen Vorgaben einheitlicher Standards für das Typgenehmigungsverfahren die Verkehrssicherheit, der Gesundheits- und Umweltschutz und eine rationelle Energienutzung gewährleistet werden sollte, nicht aber der Schutz des einzelnen Fahrzeugkäufers vor letztlich nicht gewünschten Kaufentscheidungen.Dieser Betrachtungsweise ist der EuGH deutlich entgegengetreten. Aus dem Kontext des EU-Typgenehmigungsverfahrens leitet er (auch) einen Schutzzweck der Vorschriften zugunsten der Fahrzeugverkäufer ab. Die Typgenehmigung dürfen nur solche Fahrzeuge erhalten, die umfänglich den technischen Vorgaben und insbesondere den EU-Emissionsbestimmungen entsprechen. Mit der von ihm auszustellenden Konformitätsbescheinigung bestätigt der Hersteller als Zulassungsvoraussetzung für jedes einzelne Fahrzeug, dass dieses dem genehmigten Fahrzeugtyp entspricht und somit alle technischen Vorgaben insbesondere auch bezüglich der Emissionswerte einhält. Der Fahrzeugkäufer kann damit einerseits erwarten, dass diese Bestätigung zutreffend ist und keine unzulässigen Abschalteinrichtungen vorliegen.Andererseits drohen ihm Nachteile bis hin zur Stilllegung des Fahrzeuges, wenn solche Abschalteinrichtungen verbaut sind. Aus dieser Wechselwirkung leitet EuGH eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Hersteller und dem Fahrzeugkäufer und damit auch einen Schutz der Einzelinteressen des individuellen Fahrzeugkäufers gegenüber dem Hersteller ab. Für die sich hieraus ergebenden Folgen verweist der EuGH auf die Bestimmungen des jeweils geltenden nationalen Rechts. Für das deutsche Recht bedeutet dies, dass Dieselmotoren mit Thermofenstern oder anderen unzulässigen Einrichtungen zur unzulässigen Reduzierung der Abgasreinigung nunmehr auch dann Schadensersatzansprüche begründen können, wenn dem Hersteller lediglich Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden kann. Den betroffenen Käufern wird damit die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen erheblich erleichtert.Die Verfahren beim BGHIn allen drei vom BGH aktuell entschiedenen Verfahren verlangen die Kläger den sogenannten "großen Schadensersatz", also die Rücknahme des Fahrzeuges durch den Hersteller gegen Erstattung des Kaufpreises bzw. geleisteter Finanzierungskosten unter Berücksichtigung gezogener Nutzungen. Alle drei Klagen waren in der vorangegangenen Berufungsinstanz erfolglos.Im Verfahren VIa ZR 335/21 ging es um einen VW Passat mit Motor der Baureihe EA288, Thermofenster und Fahrkurvenerkennung. Der Kläger hatte das damals 16 Monate alte Fahrzeug im November 2017 von einem Händler erworben und 2021 Klage eingereicht. Gegenstand des Verfahrens VIa ZR 533/21 ist ein 2018 erworbenes Fahrzeug Audi Q5. Der Motor der Baureihe Gen2BiT verfügt über eine Aufheizstrategie, die bereits vor Abschluss des Kaufvertrages Gegenstand einer Rückrufaktion des KBA war. Die Klage wurde 2019 eingereicht. Im dritten Verfahren VIa ZR 1031/22 wurde über einen Mercedes-Benz C 220 d mit Motor der Baureihe OM 651 verhandelt. Die Abgasrückführung erfolgt temperaturgesteuert und wird im Bereich niederer Temperaturen reduziert. Verbaut ist darüber hinaus eine Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung zur Reduzierung der NOx-Werte durch verzögerte Erwärmung des Motoröls. Alle drei Fahrzeuge hatten die EG-Typgenehmigung für die Schadstoffklasse Euro 6 erhalten.Die UrteilsgründeIn allen drei Verfahren sieht der BGH die Haftung der Hersteller aus unerlaubter Handlung nicht ausreichend aufgeklärt. Im Fall des VW Passat weist der Senat das OLG Oldenburg vorab darauf hin, dass betreffend die Fahrkurvenerkennung das Vorliegen der EG-Typgenehmigung der Annahme einer vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung nicht entgegensteht. Bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen kann die Klage auf Erstattung des Kaufpreises bzw. der Finanzierungskosten also Erfolg haben. Im Fall des Audi wurde dem OLG Köln auf den Weg gegeben, dass die Aufheizstrategie bei Erwerb des Fahrzeuges durch den Kläger bereits öffentlich kommuniziert war und dies nach den Grundsätzen der BGH-Rechtsprechung der Annahme einer vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung entgegensteht.Maßgeblich weist der BGH die genannten Gerichte und zusätzlich auch das OLG Stuttgart im Fall des Mercedes eingehend auf die Rechtsprechung des EuGH im Urteil vom 21.3.2023 und die Möglichkeit hin, dass bei Verstößen der Hersteller gegen die Vorschriften des EU-Typgenehmigungsverfahrens und Vorliegen der unzulässigen Abschalteinrichtungen nunmehr auch Schadensersatzansprüche der Kläger aus unerlaubter Handlung gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Frage kommen. Für solche Schadensersatzansprüche aufgrund lediglich fahrlässigen Handelns gibt der BGH allerdings vor, dass den Klägern kein Anspruch auf den großen Schadensersatz zusteht, die Fahrzeuge also nicht an den Hersteller zurückgegeben werden können. Anders als bei einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung durch den Fahrzeughersteller besteht bei fahrlässiger Schädigung lediglich ein Anspruch auf Ausgleich des Differenzschadens. Dieser rechtfertigt sich durch drohende Betriebseinschränkung und gegebenenfalls Betriebsuntersagung, welche die geldwerte Verfügbarkeit des Fahrzeuges in Frage stellen.Zur Bestimmung der Höhe des Schadens stellt der BGH darauf ab, dass der Käufer das Fahrzeug bei Kenntnis der unzulässigen Abschalteinrichtungen nicht zu dem vereinbarten Preis gekauft hätte. Unter Berücksichtigung der Vorgaben des EuGH, dass der Schadensersatz einerseits tauglichen Sanktionscharakter besitzen muss, andererseits aber der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist, hält der BGH einen Schadensersatzanspruch von wenigstens 5 und höchstens 15 Prozent des gezahlten Kaufpreises für gerechtfertigt, der im Einzelfall vom Richter im Rahmen dieser Spanne ohne Notwendigkeit der Erholung eines Sachverständigengutachtens zum Vorliegen und zur Höhe des Schadens geschätzt werden kann.Darüber hinaus verteilt der BGH die Darlegungslasten klar. Das Vorhandensein der Abschalteinrichtung muss der Käufer darlegen und beweisen. Umgekehrt ist der Fahrzeughersteller vortragspflichtig, wenn er sich auf das Vorliegen einer ausnahmsweise zulässigen Abschalteinrichtung beispielsweise zum Schutz des Motors vor akuten Schäden berufen möchte. Liegt eine unzulässige Abschalteinrichtung vor, muss der Hersteller auch nachweisen, dass ihn kein Verschulden trifft, ihm also bei Ausstellung der fehlerhaften Konformitätsbescheinigung weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit zu Last gelegt werden kann. Nur wenn der Hersteller sich vollständig entlasten kann, scheidet die verschuldensabhängige deliktische Haftung aus.Unter Beachtung der vom BGH aufgestellten Grundsätze werden die Berufungsgerichte abschließend aufgefordert, den Klägern erforderlichenfalls Gelegenheit zu geben, ihre Klageanträge anzupassen.Rechtsanwalt Robert Glockerkanzlei@raehaug-partner.dewww.haug-partner.deKOMMENTARDerzeit sollen allein beim BGH noch ca. 1.900 Dieselverfahren abzuarbeiten sein. Mit der geänderten Rechtsprechung wird die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen erheblich erleichtert, da alleine das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung eine Entschädigung erwarten lässt. Die Zahl der Verfahren und die Belastung der Justiz wird also aller Voraussicht nach noch einmal erheblich zunehmen. Da nach der Rechtsprechung des BGH die Verpflichtung der Hersteller besteht, aus unerlaubten Handlungen erlangte Vorteile bis zu zehn Jahre nach Eintritt der Verjährung herauszugeben, werden Aspekte der Verjährung die Prozessfreude nur bedingt bremsen. Wenn der BGH den unteren Instanzen mit den vorliegenden Entscheidungen Grundsätze zur pauschalierten Schätzung der Schadenshöhe vorgibt, so scheint dies in erster Linie vorausschauend von einem Rationalisierungsgedanken getragen zu sein.

Pkw-Markt im November: Sondereinflüsse und Hybride prägen das Bild

ZDK-Forderungen zur Bundestagswahl: "Mobilität ist mehr als nur ein Grundbedürfnis"

Absatz von Elektroautos: Weit hinter den Erwartungen

VW Golf: Kommt der Bestseller bald aus Mexiko?

Mazda-Handel: Schneider Gruppe übernimmt Autohaus Schulze & Pohle

Alle Schlagzeilen

Dieselskandal: Kein Ende der Verfahren in Sicht

MEISTGELESEN

Stellantis: Deutschland-Geschäft unter neuer Leitung

VW-Warnstreik: IG-Metall-Chefin "stinksauer und fassungslos"

KBA-Segmentübersicht: Vier neue Spitzenreiter

STELLENANGEBOTE

Audi Kfz-Mechatroniker (m/w/d)

Servicetechniker (m/w/d)

Leiter IT (w/m/d)

Volkswagen Kfz-Mechatroniker (m/w/d)

Juniorverkäufer (m/w/d)

WEITERLESEN

NEWSLETTER