Mercedes-Gruppe Jürgens: Kundenbindung und -rückgewinnung

In der 190.000-Einwohner-Stadt Hagen am Rand des Ruhrgebiets startete Mitte 2012 eine "Revolution" im Servicegeschäft, die für Marken-Autohäuser nicht nur verlorene private Kunden zurückbringen, sondern auch neue Potenziale erschließen kann. Anstoß für das "JES-Konzept" an mittlerweile drei Standorten der Mercedes-Benz-Gruppe Jürgens, Hagen, war die Abwanderung von Privatkunden mit Fahrzeugen der Segmente II und III. Kunden-Abwanderung Franco Barletta, Geschäftsführer der Carl Jürgens Holding GmbH & Co. KG in Hagen, sieht als Ursachen des rückläufigen Umsatzes der Markenwerkstätten die sehr gute Produktqualität und verlängerte Service-Intervalle einerseits, andererseits die zunehmende Kostensensibilität der Privatkunden. Hauptwettbewerber um die Marktanteile sind Freie Werkstätten, die durch den Anschluss an Werkstattsystemanbieter immer professioneller geworden sind. Das führt in der Folge dazu, dass künftig noch früher Angriffe auf Kunden der Markenwerkstätten zu befürchten sind. Laut DAT-Report 2013 war der Marktanteil von Vertragswerkstätten zu Gunsten der Freien Werkstätten um 5,9 Prozent gesunken. Zudem treten im Verteilungskampf um die Aftersales-Marktanteile neue Wettbewerber auf den Plan. Bei einem Service-Gesamtmarktvolumen von gut 30 Mrd. Euro verwundert es nicht, dass nicht nur Online-Vermittler versuchen, daran zu partizipieren. Beispiele für die Verteilungskämpfe sind jetzt auch Versicherungen bzw. Schadenssteuerer, die beginnen, Versicherungskunden auch für Wartungs- und Reparaturarbeiten in deren Partnerwerkstätten zu routen. Angesichts dieser Marktverhältnisse und der zu erwartenden weiteren Verschiebung zu Gunsten Freier Werkstätten, entwickelte Jürgens in Hagen das Service-Konzept JES (Jürgens Economy Service). Die Zielsetzung war: - abwanderungswilligen Privatkunden eine hausinterne Service-Alternative zu bieten; - verlorene Privatkunden zurückzugewinnen; - bisher unbekannte Mercedes-Benz Fahrer für das Autohaus zu gewinnen. Zudem sollten die vorhandenen Betriebsstätten besser ausgelastet und Synergien, wie z. B. die vorhandene Teile-Logistik, die Betriebs-Infrastruktur, genutzt werden. Über allem jedoch stand das Ziel, die Marken- und die Autohausbindung zu steigern, um Sales- und Aftersales-Umsatzpotenziale langfristig abzuschöpfen. Strategischer Ansatz Laut DAT-Report 2014 beginnt die Abwanderung privater Kunden zwischen dem vierten und sechsten Jahr nach Erstzulassung bzw. ist stark ausgeprägt. Ab diesem Zeitpunkt beginnt aber auch die Phase der Fahrzeugnutzung mit den höchsten Reparaturumsätzen. Diese generieren aber die Freien und Fast-Fit-Werkstätten. Am Ende dieser potenziell umsatzstärksten Phase der Fahrzeugnutzung steht die Wiedermotorisierung an und die Frage, welche Marke und welcher Händler bevorzugt werden. "Wer dann ,am Kunden dran' ist, macht das Geschäft", erklärt Barletta. Dem DAT-Report zufolge liegt die durchschnittliche private Haltedauer neu gekaufter Fahrzeuge bei fast acht Jahren. "Das bedeutet, dass diese Kunden den direkten Kontakt zur Marke und zum Autohaus für einen Zeitraum zwischen zwei und vier Jahren verlieren", erklärt Barletta. "Wenn es uns gelingt, einen Marken- und Autohaus-Zyklus zu etablieren, dann wäre das die langfristige Absicherung von Absatz- und Servicepotenzialen in der bereits bestehenden Kundschaft. Damit wäre uns eine sehr wirkungsvolle Kundenloyalität gelungen." Potenziale im Markt sind vorhanden Im Jürgens-Kundenstamm waren 2011 rund 3.500 Kunden mit Fahrzeugen der Segmente II & III erfasst. Hinzu kommen die jährlichen unbekannten Besitzumschreibungen der relevanten Segmente der Marke Mercedes-Benz im gesamten Vertragsgebiet, die bei rund 3.000 Fahrzeugen liegen. Auf Basis einer Service-Marktdatenauswertung der Daimler AG konnte für die Region Hagen ein rechnerisches Gesamtumsatzpotenzial der Fahrzeugalterssegmente II & III von fast 6 Mio. Euro ermittelt werden. Zur Entwicklung des JES-Konzepts war es notwendig, sowohl die Wettbewerber als auch die Kundengruppen, die mit dem Economy Service angesprochen werden sollen, zu kennen. Barletta: "Neben Mystery Shoppings in Freien Werkstätten und Fast-Fit-Betrieben haben wir insgesamt 400 Interviews geführt. Dabei haben wir drei Kundengruppen unterschieden: bekannte Kunden, die mehr als 24 Monate keinen Werkstattumsatz getätigt haben, aber noch im Besitz des Fahrzeuges waren, aktive Kunden, die innerhalb der letzten 12 Monate mit Zielgruppenfahrzeugen Umsätze getätigt haben, und uns unbekannte Mercedes-Benz Fahrer." Barletta: "Zu unserem Erstaunen legten die Befragten größeren Wert auf Originalteile und markenspezifische Monteurskompetenz, als wir erwartet hatten. Ebenso sind Preistransparenz und Vertrauenswürdigkeit insgesamt eine wichtige Erwartungshaltung der Befragten. Auch die Werkstätten-Testergebnisse waren sehr aufschlussreich." "Meisterleistung zu Economy-Preisen" Schwerpunkte des JES-Konzeptes sind: Vertrauen aufbauen und höchste Kostentransparenz schaffen. Beides entsteht durch Nachvollziehbarkeit. Daher wurde die JES-Preismatrix entwickelt. Diese enthält nach Baureihen unterteilt die Festpreise für gängige Verschleißreparaturen und Wartungsarbeiten. Wie bei einer Starbucks Preistafel kann der Kunde einfach und nachvollziehbar die erforderlichen Standardarbeiten im Bereich Reparatur und Wartung für seinen Mercedes auswählen. "Mit dem Festpreis schaffen wir Vertrauen", betont Barletta. "Bei uns kann der Kunde morgens schon bezahlen, was er abends abholt. Das hat eine erstaunliche positive Wirkung." Verzicht auf Sonderleistungen Vertrauensbildend ist bei Kunden auch die Erklärung, wie diese "Meisterleistung" möglich ist: Dazu gehören Verzicht auf Mobilitätsgarantie, Empfang, Bewirtung, Betreuung durch Serviceassistenz oder -berater und kostenlose Wagenwäsche. Auch günstige Ersatzteil-Bezugskonditionen bei ausgelaufenen Baureihen und der Einsatz von abgeschriebenen Spezialwerkzeugen und Diagnosegeräten sind "Preissenker" für JES. Mit einem Flyer wird den Kunden erläutert, warum JES in der Lage ist, einen fast 30 Euro günstigeren Stundenverrechnungssatz anzubieten - auch um im Original-Service glaubhaft zu bleiben. Durch diesen Verzicht ist das günstige Konzept möglich. Bei gleichzeitig höherem Intercompany Profit wie im Original-Service. Um die Service-Sub-Marke zu positionieren, war eine Abgrenzung zum Originalservice notwendig. Daher wurde ein eigenes Corporate Design mit Logo und Claim entwickelt. Auch eine eigene Bildsprache gehört zur konsequenten Umsetzung des Markenkonzepts. Das eigene JES-Öl dient vor allem einer attraktiven Preispositionierung und gleichzeitig einer Preisdifferenzierung zum Original-Öl. Neue Kunden via "Guerilla-Marketing" Eine zentrale Rolle spielt das Zielgruppen-Marketing durch Mailings an Werkstattfernbleiber und Kunden mit geringer Loyalität. Hinzu kommt das ausgefeilte "Guerilla-Marketing", bei dem Hüllen mit JES-Flyer und JES-Parkscheibe an 1.738 Zielgruppen-Fahrzeugen angebracht wurden. Erfolgreich ist zudem vor Super- und Baumärkten der Jürgens-Service-Roadshow-Truck mit mobiler Hebebühne. Dort werden Zielgruppen-Fahrzeuge kostenlos untersucht. So konnten schon über 500 - meist unbekannte - Zielgruppenkunden das JES-Konzept direkt erleben. Die Akquisitionsadressen wurden gesammelt. Bei fast 400 Fahrzeugen wurden reparaturbedürftige Mängel festgestellt. Durch das JES-Konzept kann Jürgens ohne negative Auswirkung auf die Preispositionierung des Originalservice auf Internetserviceplattformen und Vergleichsportalen Serviceleistungen zu wettbewerbsfähigen Preisen anbieten. Dazu hat JES auch eine eigene Homepage im Responsive Design und einen Facebook-Account. Der Erfolg in Zahlen, Daten, Fakten Die JES-Werkstatt in Hagen war mit zwei Arbeitsplätzen und Hebebühnen gestartet und wurde später auf vier Plätze erweitert! Es werden ausschließlich Mercedes Originalteile verwendet, für höchste Kundenzufriedenheit werden die besten Mechaniker der Gruppe eingesetzt. Barletta erklärt: "Wir haben Top-Monteure aus der MB-Werkstatt für JES gewinnen können. Das ist zwar teurer, lohnt sich aber!" Im ersten Jahr, beginnend ab Mai 2012 am Stammsitz in Hagen und ab Spätjahr 2012 in Lüdenscheid, wurden 260.000 Euro erwirtschaftet. 2013 erreichte JES bereits rund 600.000 Euro. Für 2014 wird ein Umsatz von mehr als einer Million Euro erwartet. "Eine durchaus erfreuliche Entwicklung", resümiert Barletta. Diese Umsatzentwicklung ist vor dem Hintergrund der Kunden- und Fahrzeugstruktur-Analyse zu bewerten: Von den bisher ca. 1.200 JES-Kunden waren ein Drittel unbekannte Kunden mit Erstkontakt zu Jürgens, ein Drittel Bestandskunden, die seit mehr als 24 Monaten ohne Umsatz im Autohaus Jürgens geblieben waren, und ein Drittel Bestandskunden, die zwar innerhalb der letzten 24 Monate einen Serviceumsatz im Autohaus Jürgens getätigt haben, bei denen aber ungeklärt ist, ob diese nicht in die Gruppe der Werkstattfernbleiber hineingewachsen wären. Bemerkenswert ist das durchschnittliche Fahrzeugalter im JES-Service: Während dies im Originalservice bei rund 4,4 Jahren liegt, sind es beim Economy-Service 10,5 Jahre. Auch Neu- und Gebrauchtwagenkäufe wurden durch den Economy-Service direkt realisiert. Die Kernpunkte des JES-Konzepts Das Jürgens Economy Service-Angebot richtet sich an Privatkunden mit Mercedes-Benz Pkw, die mindestens fünf Jahre alt sind und deren Baureihen nicht mehr produziert werden. Die Kernpunkte:- eine Festpreismatrix für Wartung und Standardreparaturen definierter Baureihen;- dadurch Schaffung einer bestmöglichen Kostentransparenz;- ausschließliche Verwendung von Mercedes-Benz Originalteilen;- Reparaturen außerhalb der JES-Preismatrix werden zum gültigen JES-Stundenverrechnungssatz nach erforderlichen Stundenaufwand berechnet;- zeitwertgerechte Reparaturen;- Mercedes-Benz Fachkompetenz durch Mercedes-Monteure, die aus dem Originalservice rekrutiert wurden;- "Alles aus einer Hand", was bedeutet, dass Terminvergabe, Durchführung der Arbeiten, Erstellung der Rechnung, Bezahlung sowie Fahrzeugübergabe durch den Monteur erfolgt;- keine Mobilitätsangebote;- keine zusätzlichen Serviceleistungen wie z. B. Fahrzeugwäsche;- Verzicht auf kostenintensive Herstellervorgaben.

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