Noch vor wenigen Jahren galt es als sicher: 2025 werden Autos selbstständig durch den Verkehr navigieren, ganz ohne menschliches Eingreifen. Autonomes Fahren war das große Versprechen der 2010er-Jahre. Heute zeigt sich: Die Realität hat die Erwartungen überholt, aber in andere Richtung. Zwar fahren in China und den USA erste autonome Shuttles durch klar abgegrenzte Stadtbereiche. Doch speziell in Europa kommt der flächendeckende Einsatz automatisierter Fahrfunktionen bislang nur langsam voran. Ein Grund: hohe regulatorische Anforderungen und fehlende Standards für die digitale Absicherung.
Ein Forschungsprojekt unter Beteiligung des südkoreanischen Simulationsunternehmens Morai und dem IPEK (Institut für Produktentwicklung) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), mit Unterstützung des TÜV SÜD als Prüfungsinstanz, will hier ansetzen.
Entwicklung eines Bewertungsrahmens für Simulationen
Ziel ist die Entwicklung eines standardisierten Bewertungsrahmens für Simulationen, die zur Zulassung automatisierter Fahrfunktionen eingesetzt werden. Denn die Frage, wie verlässlich eine virtuelle Testumgebung wirklich ist, stellt sich immer dringlicher.
Thomas Guntschnig, Europa-Verantwortlicher bei Morai, begleitet die Entwicklung automatisierter Fahrfunktionen seit vielen Jahren, zunächst in der klassischen Fahrzeugentwicklung, heute als Experte für Simulation. Rückblickend spricht er von einer Phase übersteigerter Erwartungen: "Die Technologie wurde unterschätzt – vor allem, was Sensorik, Rechenleistung und die Absicherung kompletter Systeme betrifft." Rückblickend auf den Hype der 2010er Jahre spricht er von „überschäumenden Erwartungen“ und einer systematisch unterschätzten Komplexität.
Dennoch rollen in den USA und China bereits autonome Taxis durch definierte Stadtbezirke, während Europa "stark reguliert, aber schwächer im Tempo" ist. Doch weil die europäische Automobilindustrie auf höchste Sicherheitsstandards setzt, könnten Simulationstechnologien wie jene von Morai zum entscheidenden Hebel werden: Es geht darum, die notwendige Testmenge effizient zu bewältigen und dabei zugleich die kostenintensive und zeitraubende Menge realer Testkilometer zu reduzieren.
"Die Simulation ist nur so gut, wie sie die Realität repräsentiert", erklärt Guntschnig. Genau hier setzt das Projekt an: Gemeinsam mit dem Institut IPEK am KIT wird ein sogenanntes Credibility Assessment Framework entwickelt, also ein Bewertungsverfahren, das die Glaubwürdigkeit kompletter Simulationsketten prüft und standardisiert. Unterstützt wird das Vorhaben von TÜV SÜD, der als unabhängiger Prüfer die Konformität mit internationalen Regularien sicherstellen soll.
Das Ziel: ein standardisierter Prozess, um die virtuelle Validierung automatisierter Fahrfunktionen für SAE Level 2 bis 4+ zu etablieren, von Notbremsassistenten bis zu Highway-Piloten. Diese Toolchains, also Werkzeugketten zur Simulation des Fahrzeugverhaltens in realitätsnahen Szenarien, sind längst ein fester Bestandteil der Fahrzeugentwicklung. Doch bislang fehlen standardisierte Methoden zur Freigabe sicherheitskritischer Systeme. Das neue sogenannte Credibility Assessment Framework soll diese Lücke schließen – mit Auswirkungen auf die gesamte Branche: Für OEMs, Zulieferer, Prüforganisationen und Gesetzgeber könnte ein verbindliches Regelwerk einen Entwicklungs- und Zulassungs-Turbo zünden.
Die Vorteile einer von Simulationen begleiteten Entwicklung automatisierter Fahrfunktionen sind enorm. Während ein Notbremsassistent auf dem Prüfgelände manuell immer wieder getestet werden muss, ein Vorgang, der alleine eine Stunde pro Versuchsablauf beansprucht, lassen sich in einer virtuellen Umgebung dieselben Tests im Minutentakt wiederholen. Mehr noch: Parametervariationen, Umweltbedingungen, Verkehrsdichte, all das lässt sich in der Simulation kontrolliert durchspielen.
Simulation erhöht Sicherheit
"Simulation ist nicht nur effizienter, sie erhöht auch die Sicherheit", betont Guntschnig. Denn sie ermöglicht, sogenannte Edge Cases zu identifizieren und zu testen, also seltene, aber potenziell gefährliche Szenarien, die im Realverkehr kaum nachzustellen sind.
Wichtig ist dabei: Simulation und Realität sind keine Gegensätze, sondern sich ergänzende Werkzeuge. "Wir holen uns Korrelationen aus der Realität, um die Simulation zu verbessern. Wenn sie dann ausreichend glaubwürdig ist, kann sie die reale Testmenge drastisch verringern, ohne Kompromisse bei der Sicherheit."
Auch interessant:
- Autonomes Fahren: Tesla kann "Robotaxi" nicht als Marke schützen
- Schnelle Datenübertragung: ZF setzt auf Glasfaser im Auto
- CES: Nvidia investiert in autonomes Fahren
Regulatorisch ist der Kurs bereits abgesteckt: Die UN-ECE hat mit dem Framework "New Assessment Test Methods" (NATM) den Rahmen für künftige Zulassungen automatisierter Systeme gelegt. Simulation ist darin ausdrücklich als gleichwertige Prüfmethode anerkannt – vorausgesetzt, sie ist nachweislich glaubwürdig. Das Projekt von Morai und IPEK will diesen Nachweis ermöglichen.
Für Guntschnig ist klar: "Wir wollen nicht nur eine interne Lösung schaffen, sondern ein Best Practice etablieren, das global skalierbar ist." Dass Morai als südkoreanisches Unternehmen mit Sitz in Deutschland hier mit europäischer Forschung und deutscher Prüfinstanz kooperiert, ist dabei auch industriepolitisch bemerkenswert. Einheitliche Bewertungsmethoden könnten es auch außereuropäischen Anbietern erleichtern, ihre Systeme in Europa zuzulassen oder im Umkehrschluss, europäischen Herstellern den Marktzugang in Asien und Amerika ebnen.
Auch wenn die europäische Autoindustrie im Bereich autonomer Systeme der Konkurrenz aus USA und Fernost aktuell klar hinterherfährt, hat die Autoindustrie in Europa fraglos das Potenzial, die Lücke zu schließen. Doch bis wir vollautonome Robotaxis im städtischen Raum erleben, dürfte laut Guntschnig wohl noch ein Jahrzehnt vergehen. Schneller durchsetzen wird sich die Selbstfahrtechnik im Bereich von Logistik und in Hinblick auf Autobahn-Automatisierung. Hier sei innerhalb der nächsten fünf Jahre mit substanziellen Fortschritten zu rechnen.
Güterlogistik: Von Cargo-Trucks bis hin zu autonomen Minenfahrzeugen
Gerade Anwendungen in der Güterlogistik – von Cargo-Trucks bis hin zu autonomen Minenfahrzeugen – bieten bereits heute wirtschaftliche Vorteile und sind regulatorisch einfacher umsetzbar. Auch im öffentlichen Nahverkehr und bei Fahrassistenzsystemen der Stufen 2 und 3 (z. B. Autobahnpilot) erwartet Guntschnig schnelle Fortschritte, nicht zuletzt, weil hier bereits zahlreiche Prototypen existieren.
Langfristig sieht er autonomes Fahren als Schlüssel für eine sicherere, effizientere und inklusivere Mobilität: "Gerade ältere Menschen oder Menschen ohne Führerschein können von automatisierten Shuttles profitieren. Das ist nicht nur eine Frage der Technologie, das ist eine gesellschaftliche Chance." Vor allem in Hinblick auf eine alternde Gesellschaft bieten zunehmend automatisierte Fahrzeuge ein großes Potenzial, selbst hochbetagten Bürgern mit Handicap eine individuelle und sichere Mobilität wie auch ihre Versorgung zu ermöglichen.
Was aufgebaut werden soll ist also mehr als ein technisches Prüfverfahren. Es ist ein Baustein für eine sichere Zukunft des Fahrens, in der Simulation nicht nur Zeit und Kosten spart, sondern zur Voraussetzung für Vertrauen und weniger Unfallrisiken sein soll. Wenn Europa es schafft, diesen Baustein klug zu einzusetzen, dann könnte es beim Rennen um das autonome Fahren vielleicht sogar auf die Überholspur wechseln.
Audi S E-Tron GT
