Urteil: Lkw-Kartell

Mehrfach hatte sich der BGH bereits mit dem europäischen Lkw-Kartell zu befassen. Zur Prüfung standen jeweils sogenannte Grundurteile gegen die Daimler AG, mit welchen die Berufungsgerichte Schadensersatzansprüche von Speditions-, Bau- und Baustoffunternehmen vorab dem Grunde nach zugesprochen hatten, ohne über die Höhe des tatsächlich entstandenen Schadens zu entscheiden. Grundurteile sind nach der Zivilprozessordnung möglich und ergehen in der Praxis vor allem dann, wenn bereits der Grund eines Anspruchs der prinzipiellen Klärung voraussichtlich über den Instanzenweg bedarf und abhängig vom Ausgang des Verfahrens ansonsten umfangreich weiter erforderlicher prozessualer Aufwand - vorliegend zur Schadenshöhe - erspart werden kann. Solche Grundurteile bedürfen einer Gesamtwürdigung aller für den Anspruchsgrund maßgeblichen Sachverhalte und im Ergebnis nach richterlicher Überzeugung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für einen Prozesserfolg der Klagepartei. Dabei bedarf es keiner abschließenden Aufklärung aller Umstände, aber es dürfen bei objektiver Würdigung auch keine ernsthaften Zweifel am Bestehen des Anspruchs aufkommen. Unter Geltung dieses Maßstabes hatte der BGH (Az. KZR 35/19; KZR 19/20) vorangehend ein Urteil des OLG Stuttgart und ein Urteil des OLG Schleswig wegen unzureichender Argumentation gegen mögliche Zweifel aufgehoben und die Sache jeweils zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen. In einem dritten Verfahren konnte der BGH (Urteil vom 5.12.2023, Az. KZR 46/21) entsprechende Fehler nunmehr nicht feststellen und verwarf deshalb die von der Daimler AG und den kartellbeteiligten Unternehmen als Streithelfer eingelegte Revision gegen ein Urteil des OLG Naumburg vom 30.7.2021. In diesem Verfahren hatte ein Baustoffhändler im Zusammenhang mit dem Abschluss von verschiedenen Leasing- und Mietkaufverträgen für neue Lkw einen kartellbedingten Schaden dem Grunde nach zugesprochen bekommen. Ob ein Schaden in Höhe der eingeklagten 51.683,51 Euro entstanden ist, muss nunmehr wieder vom OLG entschieden werden.KartellKartelle dienen dazu, durch Absprachen den Wettbewerb zu Gunsten der am Kartell beteiligten Unternehmen zu beschränken. Derartige Beschränkungen sind nach europäischem (Art. 101 AEUV, vormals Art. 81 EGV) und nach deutschem Recht (§ 1 GWB) verboten und erstrecken sich auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und sonstige aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen von Marktteilnehmern, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen können und/oder innerhalb des Binnenmarkts eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken bzw. bewirken. Mögliche Verstöße gegen diese Vorschriften sind auch durch Ermittlungen des Kartellamtes im Verdachtsfall erst einmal schwer aufklärbar. Seit Jahren im Gespräch sind hier etwa die Mineralölkonzerne und die Preisgestaltungen an den Tankstellen. Oft kommen mögliche Kartellverstöße auch nur durch Zufall oder im Zusammenhang mit anderen Ereignissen ans Tageslicht. So haben beispielsweise Zeugen im Strafverfahren wegen Betruges gegen den früheren Audi-Vorstandsvorsitzenden von Absprachen mit Konkurrenzherstellern berichtet, teure und zur Unterbringung größerer AdBlue-Tanks notwendige Konstruktionsänderungen an Fahrzeugen der laufenden Produktionsserien zu Gunsten von billigeren Abgasmanipulationen zu verschieben.Lkw-KartellMit Beschluss vom 19.7.2016 hat die europäische Kommission festgestellt, dass die für den europäischen Markt maßgeblichen Lkw-Hersteller MAN, Daimler, Iveco, Volvo/Renault, DAF und Scania von Anfang 1997 bis Ende 2010/Anfang 2011 über einen Zeitraum von 14 Jahren bei regelmäßigen Treffen und Konsultationen Preiskoordinierungen im Bereich des Verkaufs von schweren und mittelschweren Lastkraftwagen vorgenommen haben. Mit dem Ziel, die Bruttopreise im europäischen Wirtschaftsraum anzugleichen, haben sie sich gegenseitig umfassend über ihre Produktangebote informiert, vorab jeweils auch über anstehende Listenpreiserhöhungen, die teilweise abgestimmt wurden. Darüber hinaus einigte man sich auf Zeitpläne für die Einführung von Emissionstechnologien zur Einhaltung der Abgasnormen und auf die damit verbundenen Preisaufschläge. Mit den getroffenen Absprachen und ausgetauschten Informationen versetzten die Beteiligten sich gegenseitig in die Lage, das Verhalten der Mitbewerber in die eigenen Jahresplanungen mit einzubeziehen und eigene Preisgestaltungen entsprechend auszurichten. Um mit den Formulierungen des BGH im ersten diesbezüglichen Urteil zu sprechen, haben die mit einer Marktabdeckung von 90 Prozent am Kartell beteiligten Unternehmen mit Hilfe ihrer Vereinbarungen bzw. aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen "die Risiken des Wettbewerbs wissentlich durch die praktische Zusammenarbeit untereinander ersetzt".Aufgedeckt wurde das Kartell aufgrund einer Selbstanzeige von MAN im September 2010 mit Beanspruchung von Straffreiheit aufgrund der Kronzeugenregelung. Mit Ausnahme von Scania verhielten sich die anderen am Kartell beteiligten Firmen bei den folgenden Ermittlungen kooperativ und wirkten bei der Aufklärung mit. In einem Vergleichsverfahren erhielten sie deshalb unterschiedliche Nachlässe bei den Bußgeldern, die aber gleichwohl mit insgesamt knapp drei Milliarden Euro verhängt wurden. Scania erhielt daneben und außerhalb des Vergleichsverfahrens eine Kartellbuße von 880 Millionen Euro.SchadensersatzprozesseDie Kartellabsprache legt nahe, dass die Käufer von Neufahrzeugen im Segment der schweren und mittelschweren Lkw im Zeitraum des Bestehens der wettbewerbswidrigen Vereinbarungen und mit einer gewissen Nachwirkung auch noch darüber hinaus bei der Anschaffung solcher Fahrzeuge gegenüber den Bedingungen eines nicht durch Absprachen manipulierten Marktes ein höheres Preisniveau akzeptieren mussten. Dass nicht alle der betroffenen Unternehmen dies so hinnehmen wollten, ist verständlich. Schwierigkeiten bereitet jedoch die Bezifferung eines konkreten Schadens, da natürlich nicht feststeht, welche Preise im Einzelfall für die konkret angeschafften Fahrzeuge ohne die Kartellabsprache zu bezahlen gewesen wären. Zurückgreifen lässt sich hier nur auf sogenannte Regressionsanalysen, die anhand von Marktbeurteilungen und wirtschaftlichen Erfahrungssätzen versuchen, entsprechend den Grundlagen einer Schätzung angenähert einen hypothetischen Verlauf der Preisentwicklungen auf dem Markt ohne Beeinträchtigung der Konkurrenzsituation zu konstruieren.Viele Unternehmen haben sich bei dieser Situation entschieden, mögliche Forderungen ohne Kostenrisiko in Sammelverfahren oder gegen stattliche Erfolgsbeteiligung von Prozessfinanzierern geltend machen zu lassen bzw. billig an Inkassodienstleister abzutreten, welche die Forderungen summiert im eigenen Namen einklagen. Ein Verfahren größeren Umfanges ist in den Niederlanden (Amsterdam) anhängig. Das Landgericht München I hat die Klage eines Inkassoinstituts wegen Überschreitung der Befugnisse nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz abgewiesen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Den oben zitierten Entscheidungen des BGH liegen jedoch sämtlich Einzelklagen betroffener Unternehmen zugrunde.Der BGHMit allen dreien der zum Lkw-Kartell vorliegenden Entscheidungen des BGH hat dieser zunächst bestätigt, dass aufgrund der bindenden Feststellungen des Beschlusses der EU-Kommission in den jeweiligen Verfahren kein weiterer Nachweis für das Vorliegen eines Kartellverstoßes durch die beteiligten Unternehmen erforderlich ist. Bei Fahrzeugkäufen, die in den Absprachezeitraum und den Zeitraum einer zu unterstellenden Nachwirkung von einem Jahr fallen, gilt zugunsten der betroffenen Käufer der Erfahrungssatz, dass die im Rahmen des Kartells erzielten Preise im Schnitt über denjenigen liegen, die sich ohne die wettbewerbsbeschränkende Absprache gebildet hätten. Die Verursachung eines Schadens ist deshalb naheliegend. Dass vorliegend Absprachen zu den Listenpreisen und nicht zu den tatsächlich im Einzelfall verhandelten Verkaufspreisen getroffen wurden, steht dem nicht entgegen, da letztlich die Listenpreise als Ausgangsposition für Preisverhandlungen und Rabattgewährungen zu betrachten sind. Mit der aktuellen Entscheidung vom 5.12.2023 wird darüber hinaus klargestellt, dass sich die im Schnitt höheren Verkaufspreise als Schaden auch im Rahmen von Mietkauf- und Leasingverträgen auswirken, sofern Letztere - wie üblich - auf volle Amortisation, d. h. auf volle Deckung des Anschaffungspreises ausgerichtet sind.Die von der Beklagten gegen eine Auswirkung der Kartellabsprachen auf die Preisfindung vorgetragenen Argumente stehen nach Auffassung des BGH vorliegend gerade bei einem über 14 Jahre andauernden Kartell dem Erfahrungssatz durchschnittlich höherer Verkaufspreise tauglich nicht entgegen. Insbesondere kann sich die Daimler AG zum Nachweis eines gleichwohl ausreichend bestehenden Wettbewerbs nicht auf schwankende Marktanteile der am Kartell beteiligten Lkw-Hersteller im Kartellzeitraum berufen. Abgesehen davon, dass sich Verschiebungen der Marktanteile in einem bescheidenen Rahmen gehalten haben und sich im Durchschnitt über all die Jahre keine wesentlichen Veränderungen ergeben haben, können solche wegen weiterer Einflussfaktoren (Fahrzeugqualität, Produktverbesserungen, Werkstattnetz, Garantieerweiterungen, Werbeaktionen) nicht als Indiz für einen tatsächlich tauglichen Preiswettbewerb gewertet werden. Maßgeblich bestätigte der BGH dem OLG Naumburg auch, die von den Parteien unterschiedlich vorgetragenen Regressionsanalysen zum hypothetischen Verlauf der Lkw-Verkaufspreise ohne Kartellabsprache fehlerfrei dahingehend gewürdigt zu haben, dass sie nach richterlicher Überzeugung der für ein Grundurteil erforderlichen Wahrscheinlichkeit eines tatsächlich eingetretenen Schadens nicht entgegenstehen. Rechtsanwalt Robert Glockerkanzlei@raehaug-partner.dewww.haug-partner.deKOMMENTARLiest man die vom BGH mit den Titeln Lkw-Kartell, Lkw-Kartell II und III versehenen Entscheidungen in chronologischer Reihenfolge, lässt sich gestuft eine Art Gebrauchsanleitung erkennen, wie sich der BGH zur vorliegenden Thematik ein nicht angreifbar begründetes Grundurteil vorstellt. Wurden mit der Entscheidung vom September 2020 dem OLG Stuttgart noch verschiedene Ungereimtheiten und Unklarheiten in der Begründung des erforderlichen Indizienbeweises vorbehalten, erfolgte im April 2021 die Aufhebung der Berufungsentscheidung des OLG Schleswig einzig wegen der aus Sicht des BGH unzureichenden Behandlung einer von DAF als Streithelfer im Verfahren vorgelegten Vergleichsmarktanalyse. In der Begründung der Annahme kartellbedingt erhöhter Preise war für den BGH hier lediglich noch eine kleine Lücke zu schließen. Beiden Entscheidungen des BGH war aber bereits durchaus wahrnehmbar Sympathie für das Bestehen von Schadensersatzansprüchen zu entnehmen. Als das OLG Naumburg am 30.7.2021 das nunmehr bestätigte Grundurteil erlassen hat, lag ihm die Gebrauchsanleitung bereits vor und konnte - vermutlich zur Freude des BGH - quasi im dritten Anlauf erfolgreich angewendet werden.

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