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Telematik-Tarife: "Solidargemeinschaft wird nicht aufgekündigt"

27.02.2017 21:20 Uhr
Telematik-Tarife: "Solidargemeinschaft wird nicht aufgekündigt"
Moderatorin Carola Ferstl mit den Experten der jüngsten Goslar-Diskursrunde zum Thema Telematik-Tarife (v.l.): Prof. Horst Müller-Peters, HUK-Coburg-Vorstandssprecher Wolfgang Weiler, Hermann-Josef Tenhagen und Prof. Dr. Fred Wagner.
© Foto: Goslar-Institut

Telematik-Tarife berücksichtigen "nicht allein die gemeinsamen, sondern auch die individuellen Risiken von Versicherten" und dienen deshalb Versicherungen nach deren Überzeugung zu einer besseren und präziseren Einschätzung. Ziel ist eine "optimierte Differenzierung der Preisgestaltung“ mit "faireren Prämien".

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Kfz-Assekuranzen führen inzwischen auf breiter Front neue Tarife ein, die auf dem individuellen Fahrverhalten ihrer Kunden basieren. Bei der Kfz-Haftpflichtversicherung wird eine differenzierte Prämiengestaltung nachhaltig durch das persönliche Fahrverhalten des Fahrers beeinflusst, waren sich vor kurzem die Experten des jüngsten Goslar Diskurs der Studiengesellschaft für verbrauchergerechtes Versichern (Goslar Institut) einig. Die Autoversicherer haben deshalb nach dem PAYD-Motto (pay as you drive) Telematik-Tarife eingeführt, bei denen sie mit Beitragsnachlässen für besonders vorsichtiges Fahren winken.

Dieses neue Angebot bedeute aber "nicht, dass sich die Versicherungen mit den Telematik-Tarifen aus der Solidargemeinschaft davonstehlen wollen", so die Diskutanten beim Goslar-Institut am Rande des 55. Verkehrsgerichtstages. Vielmehr solle durch die neuen Möglichkeiten der Telematik – sie verknüpft Telekommunikation mit Informatik – die Prämienhöhe künftig deutlich exakter dem individuellen Schadenrisiko angepasst werden: Wer gut fährt, soll Geld sparen können. Darüber hinaus sehen die Kfz-Versicherer in Telematik-Tarifen die Chance zur "bestmöglichen Preis-Leistungsrelation" – und damit einer aktiven Kundenbindung im hart umkämpften Wettbewerb.

Kollektiv nicht als Solidargemeinschaft angelegt  
Professor Dr. Fred Wagner vom Lehrstuhl für Versicherungsbetriebslehre der Universität Leipzig stellte beim Diskurs fest, dass eine Privatversicherung im Kern auch gar nicht auf einem Solidarprinzip beruhe – also auch nicht nach dem Prinzip eines Solidarausgleichs "stark für schwach", "reich für arm", "jung für alt" oder "gesund für krank" funktioniere. Vielmehr basiere eine Privatversicherung auf risikoadäquaten Prämien sowie dem Prinzip des Risikoausgleichs im Kollektiv und in der Zeit, so der Experte. Das heißt vereinfacht: Der Kunde zahlt risikoadäquate Prämien in ein Kollektiv ähnlicher Versicherungsrisiken ein und erhält dafür die Zusage, im Versicherungsfall aus dem gemeinsamen Geldtopf heraus seinen Schaden ausgeglichen zu bekommen. Nach diesem Prinzip würden faire Prämien möglich, das heißt geringere Prämien für geringere Risiken, aber umgekehrt auch höhere Prämien für höhere Risiken. Somit sei das Kollektiv, die Versichertengemeinschaft, nicht als Solidargemeinschaft konstituiert, betonte Wagner.

"Jeder Kunde will den besten Preis"  
Er stellte zudem fest, dass sich die Gemeinschaft der Versicherten vermutlich auch nicht als Solidargemeinschaft empfinde. Denn jeder Versicherungsnehmer strebe – für sich allein – beim Versicherungsschutz nach dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis und der niedrigsten Prämie. Im Wettbewerb müssten sich die Versicherer deshalb auch anstrengen, um niedrige Prämien zu ermöglichen. Und das gehe eben nicht mit Durchschnittsprämien für Durchschnittsrisiken, die es in der Realität noch nicht einmal gibt, sondern nur mit verschieden hohen Prämien für die tatsächlich auch verschieden hohen Risiken. Auf diese Weise könnten "vorsichtigen" Versicherungsnehmern auch entsprechend niedrig kalkulierte Versicherungsprämien angeboten werden.

Aus Sicht von Professor Horst Müller-Peters vom Institut für Versicherungswesen der Technischen Hochschule Köln kann Telematik in der Kfz-Versicherung nicht nur einer genaueren Risikokalkulation den Weg bahnen, sondern auch einer als gerechter empfundenen Tariflandschaft. Damit stehe einer begrenzten Umstellung auf telematische Tarife aus Gerechtigkeitsgründen nichts entgegen, erklärte der Wissenschaftler. Er hob hervor, dass telematische Tarife zudem einen Beitrag dazu leisten können, Schäden zu vermeiden und Leben zu retten.

Aspekte und Vorteile belegen!   
Telematik erlaube nicht nur im Kfz-, sondern genauso im Gesundheitsbereich, eine sehr viel genauere Bepreisung von Versicherungsrisiken, je nachdem, wie der Kunde fahre, lebe, sich verhalte, erläuterte Müller-Peters. Wie weit diese Differenzierung gehen soll, müsse von der Gesellschaft und damit mittelbar von der Politik entschieden werden. Eine entscheidende Voraussetzung für die Akzeptanz von Telematik-Tarifen sei, dass die Unternehmen positive Sicherheitsaspekte ebenso wie tatsächliche Kostenvorteile belegen können. Gelinge dies, dürften auch vorerst skeptische Kundengruppen die neuen Tarife übernehmen und dabei ebenfalls Veränderungen im Fahrverhalten zeigen, so Müller-Peters.

Heutige Tarifmerkmale wenig akzeptiert   
Laut einer von ihm durchgeführten Umfrage finden offenbar viele Kriterien telematischer Tarife durchaus hohe Akzeptanz in der Bevölkerung: so etwa die Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit, häufiges schnelles Fahren oder Änderungen des Fahrstils. Da überwiege demnach die Ansicht, wer vorsichtiger fährt, soll weniger bezahlen. Andere "abwertende" Merkmale, wie das Automodell oder der Wohnort des Halters, werden im Vergleich dazu als nicht so gerecht empfunden. Aus der Befragung folgerte der Wissenschaftler, dass die Telematik-Merkmale oft als "angemessener" eingestuft werden als sogenannte "Ersatzmerkmale", nach denen Kfz-Prämien derzeit noch bemessen werden. In der Kraftfahrt sei die risikoadäquate Einstufung also im Prinzip akzeptiert, stellte Müller-Peters fest. Voraussetzung sei allerdings, dass die Kriterien transparent seien und der Fahrer durch sein Verhalten tatsächlich Einfluss auf seine Einstufung nehmen kann.

Lösen Mobilitätskonzerne die Versicherer ab?   
Hermann-Josef Tenhagen, Geschäftsführer und Chefredakteur des gemeinnützigen Verbraucherportals "Finanztip",hält Telematik indes nicht für ein Allheilmittel. Vielmehr sei zu befürchten, dass durch weitere Differenzierung von Tarifen der Versicherungsmarkt für Verbraucher noch unübersichtlicher werden könne. Schon jetzt sei die Vergleichbarkeit von Tarifen sehr schwierig. Heute könnten Kunden sich weder bei Vergleichsportalen, noch bei im Prinzip günstigen Versicherern darauf verlassen, dass sie den besten und günstigsten Preis haben, monierte der Verbraucherberater. Zwischen dem billigsten und dem teuersten Anbieter gebe es aktuell Unterschiede bis zum Dreifachen. In jedem Fall müsse aber für den jeweiligen Fahrer sichergestellt sein, dass sich die "Preisgabe vieler persönlicher Daten, wie sie mit den Telematik-Tarifen verbunden ist", für ihn auch tatsächlich finanziell lohne. 

Tenhagen wies offen darauf hin, dass die Zukunft der Kfz-Versicherung vielleicht gar nicht durch die Telematik, sondern durch selbstfahrende Autos und die Übernahme des Versicherungsschutzes durch die Mobilitätskonzerne der Zukunft geprägt sein könne. Die Zahl der Unfälle und die anfallenden Kosten sollten jedenfalls drastisch zurückgehen.

"Angebote werden sich durchsetzen"   
Für die HUK-COBURG-Gruppe, die seit Oktober 2016 Telematik-Tarife für Autofahrer anbietet, machte deren Vorstandssprecher Dr. Wolfgang Weiler in Goslar deutlich, dass von dem neuen Angebot insbesondere Kunden profitieren, die ansonsten hohe Prämien zu zahlen haben. So etwa junge Autofahrer und Fahranfänger, die sich mit vernünftiger und vorsichtiger Fahrweise Einsparungen bei der Prämie sichern können. Angesichts der Gerechtigkeitsvorteile und der größeren Flexibilität von Telematik-Tarifen ging Weiler davon aus, dass sich diese Angebote sukzessive bei den Verbrauchern durchsetzen, im Laufe der Zeit aber auch weiter entwickeln werden. Sich verändernde Fahr-Verhaltensweisen der Kunden, so etwa das Carsharing, könnten nach Weilers Überzeugung dabei mit eine Rolle spielen. 

Ihrer Verantwortung in Bezug auf die durch die Telematik erhobenen Daten müssten sich die Versicherer laut Weiler aber bewusst sein, denn die Verbreitung von Telematik-Tarifen hänge letztlich ab von der Akzeptanz beim Kunden. Und der Zuspruch der Versicherten zu dem neuen Angebot werde erheblich von der zugesicherten Datensicherheit bestimmt, hielten die Experten des Goslar Diskurses übereinstimmend und abschließend fest. (wkp)

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