Urteile: Ewige Urlaubsansprüche?

Bereits mit Urteil vom 06.11.2018 (Aktenzeichen C-684/16) entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass Urlaubsansprüche am Jahresende nicht automatisch deshalb untergehen, weil der Arbeitnehmer keinen Urlaub beantragt hat. Ausgangspunkt für dieses Urteil war ein Vorlagebeschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13.12.2016, der den EuGH um eine Vorabentscheidung zur grundsätzlichen Übertragbarkeit und zu einem nach deutschem Recht fristenmäßig bestimmten Verfall des Urlaubs ersuchte; wir berichteten an gleicher Stelle in Heft 16/2020. Mit weiterem Ersuchen zur Vorabentscheidung legte das BAG dem EuGH nun die Frage vor, ob EU-Recht die Verjährung eines Urlaubsanspruchs dann gestattet, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch Hinweise oder Aufforderungen tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben. Diese Frage entschied der EuGH (Aktenzeichen C-120/21) am 22.09.2022 und hierauf begründet das BAG mit Urteil vom 20.12.2022 (9 AZR 266/20). Salopp ausgedrückt geht es um die Frage, ob dem Arbeitnehmer ein "ewiger Urlaubsanspruch" verbleibt, wenn der Arbeitgeber nicht entsprechend tätig wird. Der Fall Die Klägerin war seit dem 01.11.1996 beim Beklagten als Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete zum 31.07.2017. Vor dem Ausscheiden hatte die Klägerin im Jahr 2017 sechs Tage Urlaub genommen. Für 14 Urlaubstage zahlte der Beklagte eine finanzielle Urlaubsabgeltung. Die Klägerin war allerdings der Auffassung, dass ihr für vergangene Jahre noch die Abgeltung von weiteren 101 Urlaubstagen zustünde. Nach übereinstimmenden Angaben war die Arbeitsbelastung der Klägerin derart hoch, dass sie über viele Jahre hinweg aus betrieblichen Gründen nicht ihren vollen Jahresurlaub ausschöpfen konnte. Auch hatte der Arbeitgeber mit Schreiben aus März 2012 attestiert, dass jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt noch ein Resturlaubsanspruch von 76 Tagen bestand, der gemäß schriftlicher Bescheinigung des Beklagten aus 2012 nicht verfallen konnte. Eine weitere Urlaubsbescheinigung wurde in 2016 mit der arbeitgeberseitigen Angabe von einem verbliebenen Resturlaub von 77 Tagen ausgestellt. Der Resturlaubsanspruch der Klägerin war auch bis zum Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis nicht verbraucht und nach Meinung der Klägerin darüber hinaus bis zum Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis entsprechend angewachsen. Der Arbeitgeber vertrat die Auffassung, die Abgeltung von 14 Urlaubstagen sei alles, was der Klägerin zustünde. Darüber hinaus gehende Urlaubsansprüche seien verjährt. Die Klägerin rief Anfang 2018 das zuständige Arbeitsgericht an und verlangte vom Beklagten die finanzielle Abgeltung von Urlaubsansprüchen in Höhe von rund 23.000,00 Euro. Das Arbeitsgericht wies die Klage wegen des Verjährungseinwandes des Beklagten vollkommen überwiegend ab. Das zuständige Landesarbeitsgericht wies in der Berufung den Verjährungseinwand des Beklagten zurück und verurteilte ihn zur Bezahlung einer Urlaubsabgeltung von über 17.000,00 Euro. Das LAG ließ die Revision zum BAG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage der Verjährbarkeit von Urlaubsansprüchen zu. Das BAG wiederum rief nach Revisionseinlegung den EuGH im Hinblick auf europarechtliche Bestimmungen zur Vorabentscheidung an. Maßgebliche Rechtsvorschriften - deutsches Recht Das deutsche Recht bestimmt im Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) und im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) zum Urlaub und zur Verjährung Folgendes: - Jeder Arbeitnehmer hat in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub. Der Urlaub beträgt jährlich mindestens 24 Werktage. - Der Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden. - Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten. - Ein Anspruch unterliegt der Verjährung. Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre. - Die regelmäßige Verjährungsfrist beginnt grundsätzlich mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen. Maßgebliche Rechtsvorschriften - Unionsrecht Einschlägig sind die Urlaubsrichtlinie 2003/88/I EG und die EU-Grundrechtecharta. Diese lauten auszugsweise: - Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind. - Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden. - Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub. Vorabentscheidung EuGH Der EuGH führte in seiner Vorabentscheidung vom 22.09.2020 aus, dass Arbeitgeber zwar ein legitimes Interesse daran haben, nicht solchen Forderungen nach Urlaub oder Urlaubsabgeltung ausgesetzt zu werden, die auf mehr als drei Jahre zurückliegende Rechtsansprüche gestützt werden. Damit bestätigte der EuGH zunächst die (grundsätzliche arbeitsrechtliche) Wirksamkeit der im BGB bestimmten dreijährigen Verjährung von Urlaubsansprüchen. Dies schränkte der EuGH allerdings ein: Ein legitimes Interesse in vorstehendem Sinne liegt dann nicht vor, wenn der Arbeitgeber ein jahrelanges Fortbestehen von nichterfüllten Urlaubsansprüchen selbst herbeiführt, indem er die ihm zukommenden urlaubsrechtlichen Hinweis- und Mitwirkungspflichten nicht erfüllt. Damit ist durch den EuGH geklärt, dass der in Art. 7 der EU-Richtlinie 2003/88/EG bestimmte Mindesturlaub von vier Wochen nicht verjähren kann, wenn der Arbeitgeber sich pflichtwidrig verhält. Urteil BAG Auf der Grundlage der Vorabentscheidung des EuGH entschied das BAG am 20.12.2022, die Revision des Beklagten zurückzuweisen. Damit verblieb es zugunsten der Klägerin bei der vom LAG in der Berufungsinstanz entschiedenen finanziellen Urlaubsabgeltung. Zwar unterliegt der Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten gesetzlichen Mindesturlaub (und sich hieraus ergebend der Anspruch auf Urlaubsabgeltung) der gesetzlichen Verjährung - so das BAG. Allerdings beginnt die dreijährige Verjährungsfrist erst am Ende des Kalenderjahrs, in welchem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und danach der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Nachdem der Beklagte die Klägerin zur Wahrnehmung ihrer Urlaubsansprüche weder aufgefordert noch hierauf hingewiesen hatte, verfielen deshalb die Ansprüche der Klägerin weder zum Ende des Kalenderjahrs (§ 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG) bzw. zum Ende eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 S. 3 BUrlG), noch konnte der Beklagte mit Erfolg einwenden, der nicht gewährte Urlaub sei bereits während des laufenden Arbeitsverhältnisses innerhalb von drei Jahren verjährt. Ergänzt wurde die Rechtsprechung des BAG aktuell durch sein neuestes Urteil vom 31.01.2023 (Az. 9 AZR 456/20). Hiernach beginnt für finanzielle Urlaubs-Abgeltungsansprüche der Lauf der dreijährigen Verjährung grundsätzlich am Ende des Jahres, in dem das Arbeitsverhältnis endet, ohne dass es auf die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten durch den Arbeitgeber ankommt. Spätestens dann endet also ein "ewiger Urlaubs(abgeltungs)anspruch" des Arbeitnehmers. Rechtsanwalt Rainer Bopp Fachanwalt für Arbeitsrecht www.haug-partner.de kanzlei@raehaug-partner.de KOMMENTAR In Deutschland sind knapp dreißig Millionen Menschen in Unternehmen unterschiedlicher Größe beschäftigt. Nach den Angaben des statistischen Bundesamtes arbeiten rund 45 Prozent der Beschäftigten in Großunternehmen, 16 Prozent in mittleren Unternehmen, 21 Prozent in kleinen Unternehmen und 18 Prozent in Kleinstunternehmen. Laut den Erhebungen des Bundesamtes und des Kraftfahrzeuggewerbes beläuft sich die Anzahl der in rund 36.500 Kraftfahrzeugbetrieben Beschäftigten auf (rückläufig) etwa 435.000 Menschen. Statistisch gesehen ergibt dies im Durchschnitt zwölf Beschäftigte für jeden Kraftfahrzeugbetrieb, wobei die Großbetriebe der Automobilindustrie gemäß vorstehender Aufstellung nicht berücksichtigt sind. Damit fallen die Kraftfahrzeugbetriebe mit vollkommen überwiegender Anzahl in die Kategorie der kleinen Unternehmen und Kleinstunternehmen ohne eigenen Justitiar. Angesichts der Richtlinien, Verordnungen und Gesetze wie auch der Fallkasuistik bedarf es allerdings einer entsprechenden Ausbildung, um arbeitsrechtlich den Überblick zu behalten, wie man am Beispiel des vorliegend besprochenen Falles sehen kann. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass vom Europäischen Gerichtshof regelmäßig deutsche Gesetze, die viele Jahrzehnte ohne Bedenken und Beanstandung von deutschen Gerichten angewendet wurden, als nicht EU-konform ausgehebelt werden. Es ist jedem Betrieb zu empfehlen, sich in regelmäßigen Abständen einem arbeitsrechtlichen Update zu unterziehen. KURZFASSUNG 1. Der Mindesturlaub für Arbeitnehmer beträgt sowohl nach deutschem Recht (Bundesurlaubsgesetz) wie auch nach EU-Recht (EU-Richtlinie 2003/88/EG) vier Wochen. Der Urlaub muss gemäß deutschem Recht im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden, eine Übertragung auf das nächste Kalenderjahr ist nur in Ausnahmefällen möglich. Mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist nicht genommener Urlaub abzugelten. 2. Ein Urlaubsanspruch wie auch ein Urlaubsabgeltungsanspruch unterliegen nach dem Urteil des EuGH vom 22.09.2020 grundsätzlich der regelmäßigen dreijährigen Verjährung gemäß den §§ 194 ff. BGB. 3. Mindesturlaubsansprüche können gemäß EuGH-Urteil - jedenfalls während des Laufes des Arbeitsverhältnisses - dann nicht verjähren, wenn der Arbeitgeber die ihm zukommenden urlaubsrechtlichen Hinweis- und Mitwirkungspflichten nicht erfüllt. 4. Die Verjährungsfrist beginnt nach dem Urteil des BAG vom 20.12.2022 erst am Ende des Kalenderjahres, in welchem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und danach der Arbeitnehmer trotzdem aus freien Stücken den Urlaub nicht genommen hat. 5. Gemäß Urteil des BAG vom 31.01.2023 beginnt für finanzielle Urlaubs-Abgeltungsansprüche der Lauf der dreijährigen Verjährung grundsätzlich am Ende des Jahres, in dem das Arbeitsverhältnis endet. Hierbei kommt es auf die Erfüllung von Mitwirkungsobliegenheiten durch den Arbeitgeber nicht an.

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