Geschäftsmodell: Verpasste Chance

Wenn nicht alle Anzeichen trügen, bleibt der erhoffte Neuanfang zumindest derzeit aus. Die seitens des Handels an die Elektromobilität geknüpften Erwartungen nachhaltig positiver Veränderungen des bestehenden Geschäftsmodells für den Neuwagenverkauf scheinen sich nicht zu erfüllen. Die Stimmung im Handel ist schlecht. Dazu tragen grundsätzliche Zweifel am schnellen und durchschlagenden Erfolg der Elektromobilität wegen mangelnder Lade-Infrastruktur, kurzer Reichweiten und hoher Preise ebenso bei wie Ankündigungen der Hersteller zu Margenkürzungen oder neuen und zugleich fragwürdigen Bonusregelungen.Chance also verpasst? Eindeutig ja - und zwar unabhängig von der Frage, ob Fairness und das so wichtige Vertrauensverhältnis zwischen Partnern gänzlich auf der Strecke geblieben sind. Einiges deutet darauf hin. Kommuniziert wird mehr über die Medien (z.B. FAZ 09.10.2019, Handelsblatt 15.10.2019) und weniger im direkten und persönlichen Austausch. Dabei ist Gesprächsbedarf angesichts der allseits bekannten Tatsache, dass der Handel heute im Neuwagenverkauf bei den meisten Marken Verluste in Millionenhöhe für die Hersteller verkraften muss, dringend geboten. Diese seit Jahren ungute Situation muss mit einem guten Vertriebs- und Vergütungssystem für das E-Auto beseitigt werden.Nimmt man die Verlautbarungen der Hersteller zum Wandel der Branche ernst und überprüft sie kritisch, kommt man schnell zu dem Ergebnis, dass sich Neuanfang mehr oder weniger nur auf der Herstellerseite abspielt. Hier gibt es bemerkenswerte Innovationen in den Bereichen Entwicklung und Produktion, kaum jedoch im Vertrieb, der - und mit ihm der Handel - weiterhin nur Mittel zum Zweck zu sein scheint, vorgegebene Absatzziele zu erreichen, um gesetzliche Auflagen zu erfüllen. Das bedeutet, es geht so weiter wie bisher. Kritisiert wird viel, leider meldet sich jedoch niemand aus dem Handel mit eigenen neuen Ideen oder kreativen Vorschlägen klar und deutlich zu Wort - mal abgesehen von den realitätsfernen Modellansätzen des ZDK - wie dem Anpachten der Autohäuser durch die Hersteller, um die negativen Folgen des Online-Direktvertriebs abzufedern. Dabei wird völlig verkannt, dass sich im Zeitalter der E-Autos die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für den Handel weit darüber hinaus drastisch verändern werden und dass darauf ganz anders reagiert werden muss.Praxisbeispiel Volkswagen-KonzernAm besten kann die aktuelle Situation an den Marken Volkswagen und Audi festgemacht werden. Insbesondere Volkswagen wird mit aller Konsequenz und einem völligen Neuanfang in vielen Bereichen des Unternehmens auf Elektromobilität getrimmt. Der Vorstandsvorsitzende Herbert Diess geht damit eine hohe Wette ein, deren Ausgang derzeit keiner abzuschätzen vermag. Bei Volkswagen wird in großen Dimensionen und Zusammenhängen gedacht. Es soll sogar ein eigenes Betriebssystem für die Autos des Konzerns entstehen - gegen die Giganten Apple, Google und Co. Und es werden gewichtige Allianzen mit Wettbewerbern wie Ford und Start-ups wie Argo geschmiedet.Sucht man bei Volkswagen oder Audi nach grundsätzlich neuen Ansätzen für den Vertrieb, dann wird man enttäuscht. In diesem Bereich herrscht - warum auch immer - ein diametral anderer Geist. Interessante Initiativen wie die Syntegration von Hersteller und Handel sind in der Versenkung verschwunden. Stattdessen tauchen bei VW vermeintlich neue Zöpfe wie das 7-Sterne-Programm zur Händlersteuerung auf, das andere Hersteller bereits in den 90-iger Jahren in ähnlicher Form betrieben haben. Bestehende Programme wie das Leistungssteigerungsprogramm (LSP) und Bonusregelungen für den Handel werden beharrlich weitergeführt. Auch bei anderen Herstellern gibt es keine neuen Ideen und keine mutigen Entscheidungen, die die Interessen aller Stakeholder - und damit auch der Händler - angemessen berücksichtigen. Eine echte Transformation in ein neues Vertriebszeitalter ist derzeit nirgendwo zu erkennen. Als einziger Lichtblick ist der Systemwechsel von Volkswagen und ggfs. anderen Herstellern vom Händler- zum Agentensystem (Handelsvertreter) im Verkauf der E-Autos auszumachen.Veränderte RahmenbedingungenEs kann keinen Zweifel geben, dass ein tragfähiges Vertriebs- und Vergütungssystem des Handels für den Absatzerfolg von E-Autos von ausschlaggebender Bedeutung ist. Grundsätzlich müssen Systembasis (Händler- oder Agentensystem) und Vergütungskriterien (Marge, Restprovision, Bonus) kritisch hinterfragt werden. Dabei ist festzuhalten, dass es für eine Margensenkung derzeit bei keinem System einen Spielraum und auch keine haltbare Begründung gibt. Zumindest so lange nicht, wie der beispielsweise von Volkswagen und Audi angekündigte Wegfall von Bürokratie, Standards und sonstigen Vorgaben nicht vollzogen ist und die damit einhergehenden Kostenentlastungen im Handel spürbar angekommen sind.In diesem Zusammenhang ist vor allem auch zu berücksichtigen, dass mit zunehmendem Verkauf von E-Autos für den Handel die bisherigen Logiken einer Quersubvention aus dem Service nicht mehr passen. Jeder weiß inzwischen, dass E-Autos ein deutlich niedrigeres Wartungs-, Reparatur- und Ersatzteilpotenzial aufweisen als die Verbrenner. Der gerade veröffentlichten Studie "The Future of Automotive Sales and After Sales" von Deloitte zufolge droht in 15 Jahren der heutigen Ertragssäule After Sales ein Umsatzrückgang von 55 Prozent.Notwendige KostenkompensationDie sinkende Wertschöpfung von E-Autos spielt sich ungeachtet der dargestellten Entwicklung im Handel in erster Linie auf der Herstellerseite ab. Folglich muss primär dort die entsprechende Kompensation in Form von nachhaltigen Kostensenkungen ansetzen. Auf den Prüfstand gehören vor diesem Hintergrund vor allem auch die Vertriebszentralen der Hersteller und ihre Verwaltungen zur Steuerung der Handelsorganisationen mit ihren personalintensiven Außendiensten und der über die Jahre aufgeblähten Bürokratie. Ein Teil davon ist der teuren Abwicklung komplexer Bonusregelungen zuzuschreiben, die immense Personalkosten verursacht.Selbstverständlich muss auch der Handel Kosten senken. Seine Kostenstruktur ändert sich nachhaltig allerdings erst dann, wenn auf der Herstellerseite entsprechende Vorleistungen (Wegfall und Vereinfachungen) erfolgt sind. Die aktuell den Volkswagen-Händlern in Regionalkonferenzen vorgestellten künftigen Steuerungsmechanismen lassen jedoch genau das Gegenteil befürchten. So gesehen bleibt alles beim Alten!Fragwürdige BonusregelungenDer Absatzerfolg für E-Autos liegt zuvorderst in der Verantwortung und im Interesse der Hersteller. Vor dem Hintergrund der weiteren Verschärfung der CO2-Grenzwerte der EU müssen sie deren Verkauf nachhaltig forcieren. Ohne den Handel werden die Elektro-Offensiven der Hersteller aber nicht gelingen. Die dafür notwendigen Voraussetzungen für den Handel gilt es, über gezielte Anreize und nicht über Zwänge zu schaffen. Die bisher bekannt gewordenen Ansätze möglicher Margenregelungen für E-Autos deuten jedoch darauf hin, dass auch in diesem Bereich weiterhin Boni initiiert werden, die die Händler unter Druck setzen, anstatt zu motivieren. So will zum Beispiel Audi einen neuen Leistungsbaustein für den Verkauf von E-Autos in Höhe von immerhin 1,5 Prozent einführen und dessen volle Vergütung daran koppeln, dass der Händler 20 Prozent seiner Verkäufe als E-Autos realisiert. Andere Hersteller verfolgen ähnliche Logiken. Dabei wird völlig verkannt, dass es weit weniger von der Leistung des Händlers abhängen wird, ob eine vorgegebene Quote erfüllt wird, als von der Akzeptanz der Elektromobilität generell und des Produktangebots. Hier spielen Ladeinfrastruktur und Reichweite, aber auch die aufgerufenen Preise eine wesentlich größere Rolle als das Engagement des Händlers und seine individuellen Verkaufsanstrengungen.Partielle OptimierungWenn Audi ungeachtet dessen an seinen Vorstellungen festhält, dann wird der Handel die Quote über Druckverkäufe zu realisieren versuchen, was zwangsläufig zu Lasten der Preisstabilität und der Bruttoerträge geht. Besser wäre es, den Baustein "Elektromobilität" im Margensystem so zu verankern, dass er die differenzierte Leistung des Händlers objektiv und nachvollziehbar widerspiegelt und nicht von anderen Kriterien überlagert wird. Um das zu gewährleisten, könnte die Höhe seiner Vergütung zum Beispiel von dem im jeweiligen Marktgebiet ausgewiesenen Ist-Marktvolumen von E-Autos und dem Marktanteil, den der Händler davon für seine Marke erreicht, abhängig gemacht werden. Damit könnte ein klarer Bezug zu Engagement und Performance des Händlers hergestellt werden.Möglicher SystemwechselWenn ein Neuanfang ernsthaft gewollt wird, müssen bei der Ausgestaltung des Vertriebs- und Margensystems für E-Autos grundsätzlich andere Ansätze verfolgt werden. Oberstes Ziel des Systems muss es sein, größtmögliche Preisstabilität zu gewährleisten. Das Agentensystem bietet dafür per se gute Voraussetzungen. In einem solchen System - so sollte man meinen - ist alles klar geregelt. In der Praxis des Automobilhandels wird es aber bisher nicht lupenrein umgesetzt (Beispiele Mercedes-Benz Pkw und Nutzfahrzeuge oder Volkswagen- und Audi-Großkunden). Gemäß § 84 HGB verkauft der Handelsvertreter (gleichzusetzen mit dem Agenten) in fremdem Namen und für fremde Rechnung. Er schließt Geschäfte nicht selbst ab, sondern vermittelt sie und erhält dafür eine Provision. Im Gegensatz zum Vertragshändler unterliegt der Agent damit einer systemimmanenten Preisbindung des Herstellers. Der Kaufvertrag als solcher wird im Agentensystem immer zwischen dem Hersteller und dem Kunden abgeschlossen. Dies hat zur Folge - und das ist das wichtigste Thema überhaupt -, dass nicht nur alle Verpflichtungen aus dem Vertrag beim Hersteller liegen, sondern auch alle im Zusammenhang mit dem Vertrag bestehenden Belastungen und Risiken (Nachlässe und Restwertrisiken) vom Hersteller zu tragen sind. So jedenfalls sieht es die Theorie.In der Praxis geben die Agenten für das Zustandekommen von Geschäften zusätzlich notwendige Rabatte aus ihrer Provision und bezahlen sie aus der eigenen Tasche. Auch von Restwertrisiken stellen die Hersteller heute ihre Agenten nicht vollständig frei. Darüber hinaus verlangen sie - ebenfalls im Gegensatz zur reinen Lehre -, dass die Agenten ihre Vorführwagen kaufen, und machen diesen klare Vorgaben über Stückzahlen und Zusammensetzung des nicht verlustfrei zu vermarktenden Vorführwagenbestands. Zusätzlich können Risiken für den Agenten aus der Inzahlungnahme von Gebrauchtwagen entstehen. Echte Agentenlösungen sehen anders aus, weil dann keinerlei Risiken vom Hersteller auf den Agenten übertragen werden dürfen. Daher finden bei Mercedes-Benz jährlich millionenschwere Ausgleichszahlungen statt, die bei den Händlern der Marke dann zumindest zu einem ausgeglichenen, sprich verlustfreien Ergebnis im Verkauf Neuwagen führen. Angesichts der bestehenden Gemengelage verbleibt in den heute praktizierten Agentensystemen nur der Vorteil, dass die Händler keine Neuwagen auf eigene Kosten bevorraten müssen. Die in den Vertragshandelssystemen heute üblichen Valutaziele gleichen diesen Unterschied allerdings weitgehend aus.Agentensystem bei VolkswagenWie zu hören ist, will Volkswagen mit dem Start des Verkaufs der ID-Modell- Familie zum Agentensystem wechseln und dabei die heute bestehenden dunklen Flecken im System beseitigen. Ein guter Schritt für den Handel, träten da nicht bereits heute erkennbare Mängel in Erscheinung, vor allem in der Vergütung.Zunächst die positiven Punkte: Die Vorführwagen muss der künftige Volkswagen-Agent nicht mehr kaufen, sondern er kann sie für 1,0 Prozent leasen. Die Leasingrücknahme findet generell, auch für die Leasingfahrzeuge der Kunden, ohne Beteiligung der Agenten an den Restwertrisiken statt.Die negative Seite: Hohe Investitionen für die Elektro-Infrastruktur liegen beim Händler als Vorleistung, ohne dass er weiß, wie die Wette von Herbert Diess ausgeht. Die Vergütung soll fünf Prozent (Rest-)Provision und zwei Prozent Bonus (bei Erreichung der vom Hersteller gesetzten Kriterien) betragen, zusammen also maximal sieben Prozent. Betriebswirtschaftlich ist diese Größe vor dem Hintergrund, dass der Agent unter heutigen Rahmenbedingungen - auch bei Berücksichtigung der durch das Agentursystem wegfallenden Kosten und zu tragenden Nachlässe - mindestens neun Prozent Restprovision zur Deckung der verbleibenden Kosten und zur Erzielung eines begrenzten Gewinns benötigt, nicht ausreichend. Es hat den Anschein, als habe Volkswagen die Höhe der Provision aus dem für das Großkundengeschäft gültigen System entlehnt, dabei aber nicht berücksichtigt, dass dieses Geschäft heute von den Händlern als Zusatzgeschäft betrachtet wird und die Rechnung deshalb aufgeht. Ausgleichszahlungen am Jahresende wie bei Mercedes-Benz stehen bei Volkswagen nicht auf der Agenda. Jedenfalls wird davon bisher nicht gesprochen.FazitEin echter Neuanfang mit positiver Ertragsperspektive für den Handel im Verkauf Neuwagen ist auch bei Volkswagen nicht deutlich erkennbar. Man setzt voraus, dass mit der Einführung des Agentensystems die Ära der Rabattschleuderei beendet werden kann. Ein hehres Ziel! Der Ball liegt klar bei Volkswagen. Der Hersteller ist gefordert, es umzusetzen - mit passenden Preisen, wirksamen Aktionen und intelligenter Steuerung. Was bisher bekannt geworden ist, sieht mehr nach neuer Verpackung als nach neuen Inhalten aus. Die Misere im Neuwagenverkauf wird also weitergehen - und das vor dem Hintergrund der großen Herausforderungen des ID-Geschäftes, für deren Bewältigung eine motivierte Handelsorganisation unerlässlich ist.Autor Walter Missing kennt den Autohandel seit Jahrzehnten aus Hersteller- und aus Handelssicht. Mit "Missing Management" hat er sich auf Strategieberatung, Sanierung und Restrukturierung, Management-Vermittlung und das M&A-Geschäft im Autohandel fokussiert.

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