Technologieentwicklung: Was kommt nach der Digitalisierung?

Alles was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden. Die Prognose der ehemaligen CEO von Hewlett Packard, Carly Fiorina, erfüllt sich mehr und mehr. Vom Produkt, über die Produktion bis hin zu Vertrieb und Handel: Überall ist Digitalisierung das große Thema. Digitale Prozesse und digitale Kommunikation sind mittlerweile in vielen Unternehmen zum Standard geworden. Wer nicht digitalisiert, droht aus der automobilen Wertschöpfungskette zu verschwinden.Auch den Automobilhandel hat die Digitalisierungswelle erfasst. Gleichwohl drängt sich der Eindruck auf, dass dies mit zwei Geschwindigkeiten erfolgt: Während die Hersteller die Digitalisierung mit großem Nachdruck und viel Geld vorantreiben, lässt die digitale Reife von vielen Autohäusern - wie zahlreiche Studien belegen - noch zu wünschen übrig. Zwar gehören eine professionell gestaltete Website, E-Mail-Marketing und Newsletter sowie die Präsenz in sozialen Medien auch im Handel zum Standard.Beim Lead-Management und bei der digitalen Vermarktung von Produkten und Dienstleistungen sind aber häufig noch Defizite auszumachen. Vor allem die Verbindung zwischen Off- und Online scheint vielen Händlern noch Probleme zu bereiten.Planen über den Tag hinausIst daher die Frage, was nach der Digitalisierung kommt, nicht etwas verfrüht? Sollte man jetzt nicht erst einmal diese Herausforderung bewältigen und dann schauen, was kommt oder kommen könnte? Der diesjährige Kongress des Instituts für Automobilwirtschaft (IFA) stand unter dem Motto The future is now - die Zukunft beginnt jetzt. Entscheidungen, die heute getroffen werden, müssen auch mit Blick darauf getroffen werden, was sich über die unmittelbare Zukunft hinaus an Trends abzeichnet. Wer immer nur hinterherläuft, könnte irgendwann außer Atem kommen und den Anschluss verlieren. Unternehmerisches Handeln in Zeiten eines rasanten und tiefgreifenden Veränderungsprozesses muss über den Tag hinaus reichen, um möglichst viele Optionen offenzuhalten.Um eine Ahnung davon zu bekommen, was nach der Digitalisierung kommen könnte, muss man den Prozess der Digitalisierung zu Ende denken. Was ist das Ziel - oder besser gesagt die ultimative Konsequenz - dieses Prozesses? Was passiert, wenn alles, was digitalisiert werden kann, auch wirklich digitalisiert ist?Betrachtet man die Beziehung zwischen Kunden und Autohaus vor der Digitalisierung, so war es im Wesentlichen eine persönliche Beziehung zwischen dem Verkäufer oder Kundendienstannehmer und dem Kunden. Der direkte Austausch erfolgte im Gespräch entweder vor Ort oder am Telefon.Der erste Schritt bei der Digitalisierung der Kundenbeziehung waren Informations- und Beratungsangebote für die Kunden im Internet - sei es durch Hersteller oder Händler, vor allem aber durch Suchmaschinenbetreiber und die einschlägigen Plattformen, wie Gebraucht- und Neuwagenbörsen. Der Kunde aus Fleisch und Blut machte sich am Beginn seiner Journey im Internet auf die Reise, um einen Neuund Gebrauchtwagen zu suchen oder einen kompetenten und preiswerten Serviceanbieter zu finden. Dabei hat er nicht mehr mit einer Person, sondern mit einer Maschine kommuniziert, die ihm nach seinen Vorgaben und Wünschen auf Knopfdruck verschiedene Angebote präsentiert hat. Im Grunde stehen wir da auch heute noch: Der Kunde spricht mit dem Computer und nahezu der gesamte Kommunikationsprozess verläuft digital.Vorselektion des besten AngebotsDer nächste Schritt ist schon vorprogammiert: Jetzt rüsten die Kunden digital auf. Irgendwann werden es die Kaufinteressenten leid sein, sich durch das endlose Anklicken und Durchsuchen von Websites das für sie passende Angebot zu suchen. Sie werden diese Aufgabe an einen Provider delegieren und ihm die Aufgabe stellen: Suche mir unter den Millionen Fahrzeugen, die im Internet angeboten werden, das beste Angebot, das meinen Wünschen entspricht.Mancher wird sagen: Das gibt es doch schon. Ja und Nein: Ja, denn natürlich erfüllen die Internetbörsen heute schon für den Interessenten die Funktion, den Suchprozess effizienter zu gestalten, indem sie das Angebot bündeln. Aber sie bieten dem Kunden nur die Produkte und Dienste an, die auf ihrer Plattform gelistet sind. Was in anderen Börsen angeboten wird, erfährt der Kunden dadurch nicht. Was also kommen und sich ausbreiten wird, sind Meta-Börsen, Provider, die unterschiedliche Börsen im Auftrag des Interessenten durchsuchen. Jetzt spricht der potenzielle Käufer nicht mehr mit dem Computer des Anbieters, sondern Computer sprechen mit Computern. Die Entwicklung weg von einer persönlichen zu einer digitalen Kundenbeziehung ist damit aber noch nicht am Ende. Mit der Künstlichen Intelligenz kommt in Zukunft ein Player ins Spiel, der sowohl das Suchverhalten der Kunden wie auch das Antwortverhalten der Anbieter immer zielgenauer und interaktiver machen wird. Mit der künstlichen Intelligenz sucht der Computer wie ein Mensch und lernt während des Suchprozesses noch dazu.Intelligente Rechner verhandeln miteinanderUmgekehrt werden aber auch die Computer der Anbieter immer intelligenter, lernen, wie die Kunden bzw. deren Computer ticken. Letztlich wird es dadurch zu digitalen Such-, Entscheidungs- und Verhandlungsprozessen kommen wie im wirklichen Leben, nur dass eben nicht mehr - wie im analogen Zeitalter - Menschen mit einander verhandeln, sondern intelligente Rechner. Anbieter wie Kunde delegieren ihr Verhandlungsgeschick an die miteinander kommunizierenden Computer.Man kann diese finale Konsequenz des Digitalisierungs-Prozesses mit einigem Recht als Kampf der Algorithmen bezeichnen. Denn letztlich versucht jeder, das für ihn beste Ergebnis zu erzielen. Da die Computer-Maschine ungleich mehr Informationen sammeln, auswerten und bewerten kann, als dies je einem Menschen möglich wäre, werden sich die Kunden immer stärker auf das vom Computer ausgehandelte Ergebnis hinsichtlich Modell, Preis und allen anderen Kaufmodalitäten verlassen. Sie sind von dem oft als mühsam und unbefriedigend empfundenen Kaufprozess entlastet und können sich in dieser Zeit anderen Dingen widmen. Letztlich bedeutet dies, dass sich der Kunde aus der direkten Beziehung mit dem jeweiligen Anbieter zurückzieht. Es entsteht - überspitzt formuliert - eine Kundenbeziehung ohne Kunde.Der Kampf der Algorithmen ist ein technokratisches Szenario, das letztlich darauf hinausläuft, dass es im Kaufprozess nur noch darum geht, wer wen schlägt: der Kunden-Computer den Anbieter-Computer oder umgekehrt. Es ist dies eine sehr emotionslose, aber durchaus vorstellbare Welt, in der die Menschen von einer Aufgabe entlastet wären, die ihnen vielleicht ohnehin keinen Spaß mehr gemacht hat. Denkt man noch hinzu, dass in Zukunft nicht mehr Autos, sondern - wie viele erwarten - nur noch Mobilität verkauft wird, dann ist dies ein sehr wahrscheinliches Szenario. Denn wer Mobilität, also die Bewegung von A nach B, sucht, wählt vornehmlich nach den Kriterien Schnelligkeit, Zuverlässigkeit und Preis aus. Letztlich ist dies das Gleiche wie die Lösung einer Rechenaufgabe.Dann kommt der Kampf um den KundenWenn der End- und Höhepunkt des Digitalisierungsprozesses der Kampf der Algorithmen ist, dann stellt sich die Frage: Und was kann danach noch kommen? Die Antwort mag sich paradox anhören: Dann kommt der Kampf um den Kunden, denn der Prozess der Digitalisierung wird - ganzheitlich verstanden -, nicht zu mehr Kundenbindung führen, sondern zu weniger. Das ist insofern paradox, als viele Akteure die Digitalisierung ja gerade deshalb mit so viel Engagement betreiben, weil sie glauben, die Kundenbindung damit erhöhen zu können.Doch der Mensch hat in einer vollkommen digitalisierten Welt unvergleichlich mehr Möglichkeiten als der Mensch in der analogen Welt und er wird diese Möglichkeiten auch nutzen wollen. Die Digitalisierung schafft nicht nur Alternativen, sie erleichtert es auch, diese Alternativen auszuprobieren. Jedes Angebot ist nur einen Klick weit entfernt. Das erhöht die Flexibilität und Bindungsunwilligkeit der Kunden.Die Vorstellung vieler Automobilhersteller, man könne den Kunden mittels eines ganzheitlichen Öko-Systems gewissermaßen einfangen, ist daher eine Illusion. Selbstverständlich ist es richtig, Öko-Systeme, also die Vernetzung verschiedener Produkte und Dienste unter einem Marken-Label aufzubauen. Kunden werden sich dadurch aber nicht binden lassen, denn die Öko-Systeme der Automobilhersteller haben einen großen Nachteil: Sie umfassen nicht immer die besten und nicht immer die billigsten Produkte und Dienste, die es im Markt gibt. Der Kunde wird daher die Angebote der herstellergesteuerten Öko-Systeme selektiv nutzen und nach dem Prinzip des Cherry-Picking daraus die Angebote auswählen, die für ihn interessant und günstig sind. Aber er wird sich nicht in die Abhängigkeit des Öko-Systems eines Anbieters begeben, sondern mit Hilfe seiner Algorithmen sein eigenes von ihm gesteuertes und verwaltetes Öko-System aufbauen.In der Nationalökonomie alter Prägung gibt es das Konzept der Konsumentensouveränität. Damit ist gemeint, dass Konsumenten ihre Wahlentscheidungen auf der Basis vollständiger Informationen über den Markt und Wettbewerb rational treffen. Viele Jahrzehnte lang wurde diese Annahme, auf der eine Vielzahl mikroökonomischer Modelle basieren, als unrealistisch verworfen. Zu Recht, denn in der analogen Welt ist es für einen durchschnittlichen Konsumenten unmöglich, sich vollkommene Transparenz über auch nur einen Markt und die darin agierenden Anbieter zu verschaffen.In der digitalen Welt und mit Unterstützung von Systemen der künstlichen Intelligenz wird dies möglich: Binnen weniger Sekunden können Käufer nicht nur Informationen über einen Markt bekommen, sondern gezielt die für sie relevanten Angebote identifizieren und mittels selbstlernender Algorithmen nach ihren Kriterien zugleich bewertet lassen. Mit der Digitalisierung wird der Kunde nicht unmündiger und manipulierbarer. Er wird ständig besser informiert und damit auch selbstbewusster. Wenn man so will, dann graben sich die Unternehmen mit der Digitalisierung ihr eigenes Grab. Dennoch muss, wer nicht vorzeitig aus dem Rennen gehen will, die Digitalisierung mitmachen und vorantreiben.Selbstbewusste und informierte KundenWas also kommt nach der Digitalisierung? Im Grunde das, was es auch schon vor der Digitalisierung gab: der Kampf um den Kunden. Nur dass dieser in Zukunft auf einem ungleich höheren Niveau an digitale Kompetenz und Effizienz geführt werden wird als heute. Der Prozess der Digitalisierung wird für alle, die glauben, damit ihr Kundenmanagement in ihrem Sinne verbessern zu können, mit einer großen Ernüchterung enden: Der Prozess der Digitalisierung bewirkt das Gegenteil von Kundenbindung, die Kunden werden noch illoyaler werden, als sie dies heute schon sind.Es wird auch keine Rückkehr in die analoge Welt geben. Die persönliche Kundenbeziehung wird für eine aussterbende Generation von Konsumenten noch für ein, vielleicht auch noch für zwei Jahrzehnte eine Rolle spielen. Danach sind die neuen Konsumentengenerationen an der Reihe. Wenn alles digitalisiert worden ist, was man digitalisieren kann, wird der Kunde dort Platz nehmen, wo er möchte: auf dem Fahrersitz oder vielleicht auch nur auf dem Rücksitz - aber auch von dort aus wird er bestimmen, wohin die Reise geht.Entwicklung Der Kunden-kommunikation- Kunde kommuniziert mit Personen- Kunde kommuniziert mit der Maschine- Metasuchmaschinen: Maschinen sprechen mit Maschinen- Künstliche Intelligenz: Computer sucht wie ein Mensch und lernt dazu- Computer kommunizieren mit Computern - Kampf der Algorithmen- Letzte Phase: Kampf um den unabhängigen und informierten KundenDer AutorProf. Dr. Willi Diez ist Initiator und Gründungsdirektor des Instituts für Automobilwirtschaft. 2018 trat er in den Ruhestand, begleitet die Branchenentwicklung aber weiterhin als Autor und Referent. Darüber hinaus ist er in einer Reihe von Beiräten im Automobilhandel und bei mittelständischen Zulieferern tätig.

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