Obwohl die Vermarktung von Unfallfahrzeugen durch die zeitweise Schließung von Kfz-Werkstätten, Verwertungsbetrieben und nicht zuletzt Landesgrenzen gleich mehrfach von den europaweiten Lockdowns betroffen war, ist net.casion Geschäftsführer Michael Kauß einmal mehr mit der Geschäftsentwicklung äußerst zufrieden. Im AUTOHAUS-Interview spricht der Unternehmenschef über das Glück des Tüchtigen bei der Corona-Bewältigung, den gezielten Ausbau der net.casion-Aktivitäten im abgelaufenen Jahr und über Inspiration aus anderen europäischen Märkten.
AH: Herr Kauß, in den vergangenen Jahren konnte net.casion seine Mitarbeiterzahl ebenso kontinuierlich ausbauen wie die Umsatzzahlen. Wie lautet Ihre Bilanz für dieses besondere Jahr 2020?
M. Kauß: Obwohl einige unserer Stammkunden nur ein Beauftragungsniveau von 70 bis 80 Prozent im Vergleich zu 2019 erreichen konnten, sind wir gut durch die bisherige Pandemie gekommen. In Zahlen ausgedrückt rechnen wir für 2020 mit einer Umsatzsteigerung von 20 Prozent und wollen natürlich im kommenden Jahr diese Marke wieder knacken!
Kommunikationsoffensive
Mit Videokonferenzen alleine werden solche Werte aber nicht zu erreichen gewesen sein, welche Maßnahmen haben Sie ergriffen?
M. Kauß: Wir konnten in 2020 weitere Kunden für uns gewinnen. Aber auch in der Corona-Thematik konnten wir punkten. Gemäß unserem Selbstbild als faire Restwertbörse haben wir gegenüber allen Beteiligten mit offenen Karten gespielt und uns für faire, ehrliche Lösungen starkgemacht. Die größte Herausforderung war es, verbindlich in einem noch funktionierenden grenzüberschreitenden Markt abgegebene Gebote nicht einfach verfallen zu lassen oder gar unsere Händler mit teils deutlichem Wertverlust im Regen stehen zu lassen. Denn gerade die besten Händler hätte es wirtschaftlich am schwersten getroffen. Unser ganzes Team hat an einem ständigen Informationsfluss zu allen Partnern und Auftraggebern gearbeitet und dabei das Ziel verfolgt, möglichst jeden erzielten Restwert auch in den geänderten Marktverhältnissen zu realisieren.
Hatten Sie mit dieser Strategie Erfolg?
M. Kauß: Tatsächlich mussten wir nur sehr wenige Fahrzeuge erneut einstellen, konnten unsere höchstbietenden Händler bei der Stange halten und damit auch den Versicherungen eine langfristige, positive Restwertentwicklung bieten. An dieser Stelle gilt mein besonderer Dank deswegen noch einmal allen und insbesondere den Versicherern, die langfristigen Nutzen über kurzfristigen Profit gestellt haben.
Der Markt hat bereits deutlich auf unsere Vorgehensweise reagiert: So konnten wir ein Plus von rund 20 Prozent an aktiven Aufkäufern verzeichnen, was sich natürlich auch an der erfreulichen Entwicklung der Restwerte ablesen lässt. Diese positive Mund-zu-Mund-Propaganda hatte übrigens auch den Effekt, weitere branchenerfahrene Kollegen für net.casion zu gewinnen.
Gezielte Erweiterungen
Welche Aufgaben soll die vergrößerte Mannschaft übernehmen?
M. Kauß: Zum einen sind wir mit unserer eigenen Lösung insert² in diesem Jahr erfolgreich ins Flottengeschäft eingestiegen. Das Tool und unsere Prozesse werden sehr gelobt, sodass wir uns sicher auch dank dem attraktivsten Preismodell sehr gut entwickeln. Dieses Engagement werden wir sukzessive ausbauen.
Zudem ist mit der Gründung von ClaimParts ein weiteres, wichtiges Standbein geschaffen. Unsere Internetplattform ist bereits online, schon heute können wir 1,5 Millionen Ident- und Gebrauchtteile hoher Qualität aus Deutschland, den Niederlanden, Frankreich, Spanien, Portugal und weiteren Märkten anbieten – bedarfsgerecht und modellbezogen bis hin zur richtigen Farbe der Tür für das jeweilige Fahrzeug. Bestellung und Handel sind also bereits ebenso möglich wie die Datenlieferung zu den Komponenten für die fiktive Abrechnung. Hier läuft aktuell eine Vielzahl von Gesprächen mit Interessenten und möglichen, meist international aufgestellten Partnern. Zudem konnten wir schon erste Testfelder mit sehr positiven Ergebnissen abschließen.
Wie viel Potenzial sehen Sie im Teilegeschäft?
M. Kauß: Mit Blick auf das Einsparpotenzial bei gleicher Qualität ein ganz enormes – denken Sie nur an die kürzlich veröffentlichen GDV-Zahlen zur weiter fortschreitenden Preisexplosion bei Ersatzteilen und die Berichte in der einschlägigen Fachpresse. Zudem bieten wir im Vergleich zu anderen Internet-Quellen wie eBay oder Amazon eine deutlich günstigere Gebührenstruktur, was ClaimParts natürlich zur attraktiven Alternative macht. Zum Preis kommt noch der Vorteil des Komforts: Wir erreichen schon jetzt eine enorme Verfügbarkeit und können direkt aus der Kalkulation heraus oder auf Basis eines strukturierten Datensatzes eine Sofortauskunft zum jeweils beschädigten Teil geben, das für die Reparatur des Fahrzeugs benötigt wird. Das macht das System für Versicherungen, aber auch Sachverständigenorganisationen und Reparaturbetriebe interessant.
Deutscher Sonderweg
Bisherige Versuche in Sachen grüne Kasko und Identteile sind oft an den Qualitätsansprüchen gescheitert. Sehen Sie hier Bewegung?
M. Kauß: Die Ersatzteile müssen passen, das ist ganz klar, auch darf es keine Kompromisse in Sachen Fahrzeugsicherheit geben. Aus meiner Sicht sind einige Widerstände aber auch in Besonderheiten des deutschen Marktes begründet: In Frankreich und anderen europäischen Märkten ist sogar eine prozentuale Quote gebrauchter Teile bei der Unfallinstandsetzung vorgeschrieben. Die Automobilhersteller und ihre Servicebetriebe haben ebenso ein zunehmendes Interesse an wirtschaftlicher und ökologischer Reparatur wie die Versicherungsgesellschaften. Deswegen erwarte ich ab Januar, wenn wir mit einer Führungskraft aus den eigenen Reihen und einer Marketingoffensive starten werden, einiges an Interesse. Das gilt auch für andere Gebiete der Schadenregulierung, in die wir über unsere internationalen Kontakte und Partner Einblicke bekommen.
Schadenprozesse beschleunigen
Welche Entwicklungen könnten Sie sich hier vorstellen?
M. Kauß: Die Serviceerwartungen der Kunden steigen überall und was die Chancen einer wirklich schnellen Unfallschadenabwicklung angeht, stecken wir noch in den Kinderschuhen. Ganz frisch haben wir die Kooperation mit Yallotrade geschlossen und schärfen zusammen das für den deutschen Markt passende Geschäftsmodell. Denn wenn in Schweden ein Kunde einen Unfall hat und ihm seine Versicherung den Wiederbeschaffungswert für sein Fahrzeug innerhalb eines Tages auszahlt, ihm geeignete Modellalternativen vorschlägt und ihm dabei immer sein aktuelles Budget vor Augen führt, sind die Versicherungsnehmer begeistert. Versucht man dasselbe in Deutschland, kommen schnell Ängste auf, über den Tisch gezogen zu werden. Dieses Bewusstsein wird sich ändern und unser Ziel für die künftige Komplettabwicklung des Schadens lautet aktuell schon sieben Tage, wohlgemerkt inklusive der Schließung der Akte beim Versicherer. Für 2021 haben wir jedenfalls noch einige Überraschungen geplant.
Herr Kauß, vielen Dank für dieses Gespräch. (kt)