Mit dem eigenen Wagen mobil sein, heißt heute sehr oft, viele Tätigkeiten des Alltags in das Auto zu verlegen. Dass diese dort aber nicht hingehören, machte Allianz-Schadenvorstand Mathias Scheuber bereits vor einigen Monaten im Rahmen einer themenbezogenen Pressekonferenz deutlich (wir berichteten).
Bei solchen "Fremdtätigkeiten", die laut einer breit angelegten Studie meist auch unfallursächlich sind, geht es beispielsweise um das Schminken oder Rasieren beim Autofahren. Den Unfallforschern im Allianz Zentrum für Technik (AZT) ist allerdings nicht nur der Lippenstift oder der Elektrorasierer ein Dorn im Auge: Unter dem englischen Stichwort "clothing & body care" fassen die Experten eine Fülle an Tätigkeiten zusammen, die sie bei Autofahrern beobachten. So zum Beispiel Schmuck oder Uhr anlegen, Kontrolle der Kleidung, Ordnen der Frisur, Betrachten von Hautunreinheiten oder Zähnen, Nagelpflege, Wechseln der Brille, Auftragen von Sonnenschutzcreme, Einnehmen von Medikamenten, Anlegen oder Ablegen der Krawatte oder der Wechsel in bequeme Schuhe. Vor allem auf dem Weg zur Arbeit sei der Alltag beim Autofahren von Tätigkeiten rund um die eigene Person begleitet. Sehr häufig sind unnötiger Zeitdruck oder Bequemlichkeit der Grund.
Über ein Viertel fahren nicht nur Auto
Werden die Antworten der Autofahrer der Allianz-Ablenkungsstudie auf die vier Fragen nach "Make-Up", "Rasieren", "Kleiderwechsel", "Nagelpflege" und "Schmuck/Uhr an-, ablegen" zusammengefasst, ergibt sich ein Anteil von 27,5 Prozent, die das Vorkommen eines oder mehrerer dieser Aktivitäten während des Autofahrens bestätigten. "Viele dieser Tätigkeiten und Blickabwendungen werden nicht als gefährlich angesehen und geschehen oft sogar kaum bewusst, eher flüchtig nebenher. Das macht die Sache so gefährlich", so Dr. Jörg Kubitzki, Autor der Studie und Unfallforscher im AZT.
Grundsätzlich zeigt die Allianz Studie, dass Ablenkungen am Steuer einen größeren Einfluss auf die Unfallwahrscheinlichkeit im Straßenverkehr haben als allgemein angenommen. "Etwa jeder zehnte Verkehrsunfall wird maßgeblich durch abgelenktes Verhalten der Autofahrer verursacht", sagt auch Severin Moser, Vorstandsvorsitzender der Allianz Deutschland AG. "Bei etwa einem Drittel aller Unfälle spielt Unaufmerksamkeit eine Rolle", bringt Moser die eigentliche Brisanz dieser "fahrbegleitenden Nebentätigkeiten" auf den für die allgemeine Verkehrssicherheit sowie die volkswirtschaftlich Bedeutung relevanten Punkt.
Gefährlichkeit wird unterschätzt
Viele Personen würden die Gefährlichkeit der vielen Kontrollblicke in den Schmink- oder Rückspiegel nachhaltig verkennen. Demgegenüber haben die Ismaninger Unfallforscher des AZT festgestellt, dass diese Blicke bis zu mehrere Sekunden andauern können. Einer großen US-Feldstudie (100 Car Study) gemäß – auf die das AZT zusätzlich Bezug nimmt – wird während des Schminkens der Blick immer wieder kurz von der Straße weggerichtet: "Das Schminken erfordert eine hohe Aufmerksamkeit. Dadurch geht bis zu 40 Prozent der Aufmerksamkeit für die Straße verloren. Das Unfallrisiko ist dabei um das Dreifache erhöht", sagt Dr. Kubitzki.
In der Allianz Studie gaben immerhin sieben Prozent aller Befragten zu, sich während der Fahrt der Körperpflege bzw. dem Make-up oder dem Rasieren zu widmen. Auch der Blick in den Rückspiegel diene häufig nicht der Sicherheit, sondern der Beobachtung anderer Personen. Solche Blicke, die mehr als der bloßen Abstandskontrolle dienen, können länger dauern als manch ein Fahrer glaubt. Auch sie lenken ab.
Auto ist kein Kleiderschrank
Besonders hoch lag mit 20 Prozent der Anteil der Autofahrer, die beim Fahren sogar noch Kleidungsstücke wechseln, also sich an-, aus- oder umzuziehen. In der kalten Jahreszeit werde die Winterjacke erst nach einer gewissen Zeit abgestreift, und das ohne anzuhalten.
Für die Sicherheitsstudie Ablenkung im Straßenverkehr führte das AZT gemeinsam mit den Instituten Mensch-Verkehr-Umwelt und Makam Market Research eine Repräsentativerhebung unter Autofahrern in Deutschland, Österreich und der Schweiz durch und analysierte den internationalen Forschungsstand. (wkp/he)